Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress
Die deutsche Wirtschaft steuert durch schwieriges Fahrwasser. Die Auftriebskräfte durch den Wegfall der Pandemiebeschränkungen, die Nachwehen der Corona-Krise und die Schockwellen durch den Krieg in der Ukraine sorgen für gegenläufige konjunkturelle Strömungen. Allen Einflüssen gemeinsam ist ihre preistreibende Wirkung. Im zurückliegenden Winterhalbjahr haben vor allem die Maßnahmen zum Infektionsschutz die Wirtschaftsleistung gedämpft. Unter der Voraussetzung, dass das Kriegsgeschehen in der Ukraine mit Blick auf die ökonomische Aktivität nicht weiter eskaliert, werden die konjunkturellen Auftriebskräfte ab dem Frühjahr die Oberhand gewinnen. Nach einem schwachen Jahresauftakt dürfte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal zwar deutlich zulegen, ohne die Belastung durch den Krieg in der Ukraine würde das Plus aber kräftiger ausfallen. Insgesamt verzögert sich damit der Erholungsprozess abermals. Das Vorkrisenniveau der Wirschaftsleistung wird demnach erst im dritten Quartal des laufenden Jahres erreicht werden. Alles in allem erwarten die Institute einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von 2,7% für dieses Jahr und 3,1% für nächstes Jahr. Im kommenden Jahr driftet die deutsche Wirtschaft in eine leichte Überauslastung. Maßgeblich dafür sind der hohe Auftragsüberhang in der Industrie sowie nachholende Konsumaktivität. Im Falle eines sofortigen Embargos für die Öl- und Gaslieferungen aus Russland in die Europäische Union würde hingegen die deutsche Wirtschaft in eine scharfe Rezession geraten. Der kumulierte Verlust an gesamtwirtschaftlicher Produktion dürfte sich in diesem Fall bereits in den beiden Jahren 2022 und 2023 auf rund 220 Mrd. Euro belaufen, was mehr als 6,5% der jährlichen Wirschaftsleistung entspricht.
13. April 2022
Der Überfall Russlands auf die Ukraine fügt der Weltwirtschaft über mehrere Kanäle schweren Schaden zu. Die Preise für fossile Brennstoffe und einige Industriemetalle, für die Russland und zum Teil auch die Ukraine Hauptlieferanten auf den Weltmärkten sind, haben sprunghaft zugenommen. Denn im Zuge der westlichen Sanktionen wird ein erheblicher Teil dieses Angebots nicht wie gewohnt dem Weltmarkt zur Verfügung stehen. Auch die Nahrungsmittelpreise haben sich deutlich erhöht, da die Ausfuhr von Getreide oder Düngemittel aus der Ukraine und Russland zurückgeht. Zudem lassen der Krieg und die Sanktionen gegen Russland die derzeit ohnehin strapazierten globalen Lieferketten an einigen Stellen erneut reißen. Preissprünge und Lieferengpässe dürften in den nächsten Monaten die schon vielerorts hohe Inflation weiter befeuern. Auch werden Russland und die Ukraine als Absatzmärkte in nächster Zeit weitgehend ausfallen. Schließlich erschwert der Krieg, weil er die Welt unsicherer macht, viele wirtschaftliche Entscheidungen. An den Finanzmärkten sind die Reaktionen bislang allerdings eher moderat ausgefallen. Wegen der geografischen Nähe und der stärkeren Verflochtenheit mit Russland und der Ukraine sind die europäischen Volkswirtschaften, zumal die in Mittel- und Osteuropa, besonders betroffen. Kritisch ist für viele EU-Länder die hohe Abhängigkeit von russischem Erdgas. Zudem stehen sie vor der Aufgabe, Millionen ukrainischer Flüchtlinge aufzunehmen.
Die Prognose basiert auf der Annahme, dass es über die Grenzen der Ukraine hinaus zu keiner Ausweitung der militärischen Auseinandersetzung kommt, der Konflikt aber, militärisch oder politisch, andauert und auch die Sanktionen bestehen bleiben. Unter diesen Voraussetzungen wird die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Russland und der gesamten Region im Prognosezeitraum eine Quelle erhöhter Unsicherheit bleiben und die internationale Konjunktur dämpfen. Der starke Anstieg der Rohstoffpreise trägt dazu bei, dass die Inflation weltweit hoch bleibt. Allerdings gehen die Institute zunächst davon aus, dass die Rohstoffexporte Russlands in die Europäische Union nicht gestoppt werden und insbesondere Rationierungen des Gasverbrauchs in Europa vermieden werden (Basisszenario). Unter dieser Annahme dürften die Rohstoffpreise ihren Hochpunkt bereits hinter sich gelassen haben und im Einklang mit den Kursen an den Terminmärkten in den kommenden Monaten allmählich wieder sinken. Eine deutlich ungünstigere Entwicklung ist zu erwarten, wenn es zu einem Lieferstopp käme (Alternativszenario).
Es gibt aber auch einen Faktor, der die internationale Konjunktur stützt: Die Corona-Pandemie belastet die wirtschaftlichen Aktivitäten außerhalb Chinas immer weniger, nicht zuletzt, weil sich mit Omikron eine für Geimpfte und Genesene weniger gefährliche Variante durchgesetzt hat. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind in den meisten Ländern weitgehend aufgehoben worden. Allein die damit verbundene Normalisierung des Konsumverhaltens dürfte der Konjunktur einen kräftigen Schub verleihen. Die Erholung der Weltwirtschaft von den Folgen der Pandemie wird nun aber durch den Krieg in der Ukraine und seine wirtschaftlichen Folgen gebremst.
Im vierten Quartal 2021 setzte sich die weltwirtschaftliche Erholung insgesamt noch unvermindert fort. Freilich war der Konjunkturverlauf in den einzelnen Regionen unterschiedlich. Insbesondere im Euroraum kühlte sich die Konjunktur infolge einer neuen Pandemiewelle deutlich ab. Die verordneten oder freiwilligen Beschränkungen von sozialen Kontakten und wirtschaftlicher Aktivität fielen allerdings deutlich geringer aus als in den vorangegangenen Pandemiewellen. Kräftig, mit einem Zuwachs von 1,7% gegenüber dem Vorquartal, expandierte die gesamtwirtschaftliche Produktion in den USA, nicht zuletzt infolge eines starken Lageraufbaus. Nach sehr niedrigen Lagerbeständen im Sommer versuchten offenbar viele Unternehmen aus Sorge vor andauernden Lieferengpässen ihre Läger so gut wie möglich aufzufüllen, was die bestehenden Probleme bei Lieferketten kurzfristig aber noch einmal verschärft haben dürfte. Auch in Japan expandierte das Bruttoinlandsprodukt im Schlussquartal 2021 mit kräftigen 1,1%. Die japanische Wirtschaft profitierte dabei vor allem von wieder deutlich zulegenden privaten Konsumausgaben und einer dynamischen Exportentwicklung.
Der Welthandel mit Waren hat nach einer Phase der Stagnation im Sommer zu Jahresende 2021 wieder deutlich zugenommen, gegenüber dem Vorquartal um 2,5%. Die seit dem Einbruch vom Frühjahr 2020 insgesamt kräftige Dynamik ist auch darauf zurückzuführen, dass sich die Nachfrage wegen der Pandemie von personennahen Dienstleistungen auf handelbare Güter verlagert hat. Besonders stark ist die Nachfrage nach importierten Waren vonseiten der privaten Haushalte in den USA. Sie hat zusammen mit pandemiebedingten Ausfällen von Produktionskapazitäten wesentlich zu den Engpässen bei internationalen Lieferketten beigetragen. Das gilt besonders für den Seeverkehr – sei es für die Verfügbarkeit von Schiffen oder Containern, oder für die Abfertigung in den Häfen.
Vor dem Hintergrund der in weiten Teilen der Welt expansiven Geld- und Finanzpolitik haben die Nachfrage nach Konsum- und Vorleistungsgütern sowie nach Rohstoffen, aber auch Knappheiten auf den Arbeitsmärkten in einem Großteil der fortgeschrittenen Volkswirtschaften erheblich zugenommen. In der Folge sind die Inflationsraten schon seit Frühjahr 2021 stark gestiegen. Die steigenden Energiepreise sind Teil eines grundlegenden Preisauftriebs. Ein rascher Rückgang der Inflation ist nicht zu erwarten; vielmehr ist im Laufe des Frühjahrs mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Denn die Invasion Russlands in der Ukraine hat viele Preise für Rohstoffe und Landwirtschaftsprodukte nochmals stark steigen lassen. Erdöl der Sorte Brent verteuerte sich von etwa 80 US-Dollar pro Barrel zu Jahresbeginn auf über 120 US-Dollar Anfang März; Anfang April kostete Erdöl etwa 110 US-Dollar. Die Erdgaspreise auf dem europäischen Spotmarkt legten im selben Zeitraum um ein Drittel zu, nachdem sie im Lauf des Vorjahrs bereits um den Faktor vier gestiegen waren. Deutlich gestiegen sind auch die Preise für Industrierohstoffe und Nahrungsmittel. Russland und die Ukraine sind bedeutende Anbauländer für Getreide. Daher hat sich die Unsicherheit über die mögliche Erntemenge massiv erhöht. Zudem dürften kriegsbedingte Ausfälle bei der ukrainischen Industrieproduktion das Lieferkettenproblem wieder verschärfen, nachdem es hier um die Jahreswende Anzeichen für eine allmähliche Entspannung gegeben hatte. Neuer Stress für die internationalen Lieferketten rührt zudem von neuen Corona-Ausbrüchen in China her.
Die hohe Inflationsdynamik bei zunächst noch recht günstigen Wirtschaftsaussichten hatte im Winter dazu geführt, dass viele Zentralbanken, in Europa etwa die Großbritanniens, Norwegens sowie der mittel- und osteuropäischen Länder, ihre Leitzinsen erhöhten. Mit Kriegsausbruch haben sich jedoch die wirtschaftlichen Aussichten eingetrübt und der inflationäre Druck spürbar erhöht. Damit steht die Geldpolitik vor einem Zielkonflikt zwischen Preis- und Produktionsstabilisierung, wie er in ähnlicher Weise im Zuge der beiden Ölpreisschocks 1973 und 1979 aufgetreten war. In den USA überwiegen die Inflationsgefahren, und so hat die US-Notenbank im März 2022 zum ersten Mal seit dem Dezember 2018 ihren Leitzins erhöht und zudem angekündigt, dass sie ab dem Sommer mit dem Prozess der allmählichen Bilanzverkürzung beginnen wird. Die Europäische Zentralbank strafft ihre Geldpolitik zaghafter: Sie hat ihre Wertpapierkäufe im Rahmen des zu Pandemiebeginn gestarteten Notfallkaufprogramms im März beendet und in Aussicht gestellt, ihr allgemeines Wertpapierkaufprogramm nach vorübergehender Erhöhung im kommenden Sommer auslaufen zu lassen. Mit einer Anhebung der Leitzinsen im Euroraum ist für das vierte Quartal des laufenden Jahres zu rechnen. Dagegen ist in China und in Japan der Inflationsdruck trotz auch dort höherer Energiepreise weiterhin gering, und mit geldpolitischen Straffungen ist vorläufig kaum zu rechnen. In einigen Schwellenländern, wie etwa Brasilien, sind die Inflationsraten wiederum in die Höhe geschossen, und die Leitzinsen wurden bereits deutlich erhöht.
Umfangreiche expansive finanzpolitische Maßnahmen haben in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften – und in geringerem Umfang auch in vielen Schwellenländern – in den Jahren 2020 und 2021 die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gemildert. Diese Maßnahmen laufen nun im Großen und Ganzen aus. An ihre Stelle treten in der EU und in Japan Ausgabenprogramme in allerdings geringerer Größenordnung, während es unsicher ist, wieviel die US-Regierung von ihrem geplanten Programm im Kongress wird durchsetzen können. Darüber hinaus werden angesichts der höheren Energie- und Lebensmittelpreise in manchen Ländern Maßnahmen ergriffen, um die Folgen etwa für Haushalte mit geringem oder mittlerem Einkommen zu mildern. Auch dürfte es in mehreren Ländern mittelfristig zu höheren Ausgaben für die Verteidigung und zu einem beschleunigten Umbau der Energieversorgung kommen. Die Neuverschuldung wird in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften hoch bleiben. In den Schwellenländern werden die seit Ausbruch der Pandemie stark gestiegenen Budgetdefizite trotz der allmählichen wirtschaftlichen Erholung nur langsam reduziert, wobei häufig – wie in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften – längerfristige Ausgabenprogramme aufgesetzt worden sind, die vor allem auf eine Stärkung der Infrastruktur zielen.
Der Krieg in der Ukraine und die umfangreichen Sanktionen gegen Russland haben den weltwirtschaftlichen Ausblick spürbar eingetrübt. Während die Kaufkraft der Konsumenten durch die hohen Energiepreise verringert wird, belasten die geopolitischen Risiken die Investitionsneigung der Unternehmen. Zudem können die Probleme bei den Lieferketten immer wieder zu stockender Industrieproduktion führen. Die Institute gehen davon aus, dass die meisten noch bestehenden pandemiebedingten Einschränkungen bis zum Beginn des zweiten Quartals aufgehoben oder durch weniger weitreichende Auflagen ersetzt werden. Auch die individuellen Verhaltensanpassungen zur Vermeidung von Infektionen werden deutlich nachlassen. In vielen Schwellenländern, wo die Impfkampagnen bisher zum Teil mit weniger wirksamen Impfstoffen durchgeführt wurden, kommt die Pandemiebekämpfung langsamer voran. Aber auch dort dürften die verbleibenden Einschränkungen die wirtschaftliche Aktivität nur noch geringfügig belasten. China hingegen wird wohl weiter an seiner besonders strikten Eindämmungspolitik festhalten, welche immer wieder zur Abriegelung ganzer Städte und Schließungen von Fabriken oder Hafenanlagen führt. Dies trägt dazu bei, dass die Probleme bei internationalen Lieferketten mindestens im ersten Halbjahr 2022 bestehen bleiben.
Unter diesen Umständen werden die pandemiebedingten Produktionshemmnisse in China und vor allem der Krieg in der Ukraine die weltwirtschaftliche Erholung im Jahr 2022 verlangsamen, aber nicht zum Stehen bringen. Für die zweite Jahreshälfte rechnen die Institute mit einem Abflauen der Corona-Krise auch in China und mit einem allmählichen Rückgang der Energie- und Rohstoffpreise. Aus diesem Grund und auch wegen der schwächeren Konjunktur verringert sich der Inflationsdruck dann allmählich. Alles in allem haben die Institute ihre Erwartung für den Zuwachs der Weltproduktion in diesem Jahr deutlich von 4,2% auf 3,5% reduziert. Die Prognose für das Jahr 2023 fällt um mit 3,0% um 0,1 Prozentpunkte geringer aus. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften insgesamt wird die gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Jahr trotz der mit dem Krieg verbundenen Belastungen mit einer Rate von 3,3% deutlich zulegen; im nächsten Jahr dürfte sie mit 2,3% kaum schneller expandieren als im mittelfristigen Trend. Der weltweite Warenhandel dürfte dieses Jahr trotz der nur schwachen Zunahme im Verlauf um rund 3,3 % zulegen. Für das kommende Jahr erwarten die Institute bei etwas höherer Dynamik im Verlauf einen Anstieg um 3,1%.
Die deutsche Wirtschaft steuert durch schwieriges Fahrwasser. Die Auftriebskräfte durch den Wegfall der Pandemiebeschränkungen, die Nachwehen der Corona-Krise und die Schockwellen durch den Krieg in der Ukraine sorgen für gegenläufige konjunkturelle Strömungen. Allen Einflüssen gemeinsam ist ihre preistreibende Wirkung.
Mit der nun abflauenden Pandemie geht für sich genommen eine kräftige Erholung einher. Diese wird insbesondere durch die kontaktintensiven Dienstleistungsbereiche getragen. Dort können mit dem Wegfall der meisten Infektionsschutzmaßnahmen die Kapazitäten wieder stärker genutzt werden. Zugleich dürften sie auf rege Nachfrage stoßen, auch weil ihre Leistungen über längere Zeit entbehrt werden mussten. Zudem haben die privaten Haushalte während der Pandemie Überschussersparnisse von über 200 Mrd. Euro gebildet, die maßgeblich dem Umstand geschuldet waren, dass die Konsumenten ihre gewohnten Verbrauchsmuster pandemiebedingt nicht beibehalten konnten. Das hohe Ausmaß an aufgestauter Kaufkraft wirkt belebend auf die Konjunktur und dürfte einen Gutteil des derzeitigen Inflationsdrucks erklären. Zu diesem Inflationsdruck hat die Finanzpolitik beigetragen, indem sie während der Pandemie die privaten Einkommen in erheblichem Umfang stabilisiert hat. Flankierend wirkte eine ultralockere Geldpolitik, die nun kaum gegensteuert – aktuell senkt die in die Höhe geschnellte Inflation die ohnehin negativen Realzinsen nochmals deutlich.
Im Zuge der Pandemie wurden die Lieferketten erheblich gestresst. In der Folge war auch die deutsche Industrie mit Materialengpässen historischen Ausmaßes konfrontiert, welche die Produktion massiv beeinträchtigten, während sich die Nachfrage ausweislich des regen Auftragseingangs bereits kräftig erholt hatte. Insgesamt dürfte sich der Auftragsüberhang im Verarbeitenden Gewerbe mittlerweile auf 100 Mrd. Euro belaufen. Die Industrieproduktion ist seit fünf Monaten wieder aufwärtsgerichtet, gleichwohl belasten Lieferengpässe immer noch die industrielle Aktivität. Hohe Nachfrage bei gehemmtem Angebot machen sich in stärkerem Preisdruck geltend. In dem Maße, wie Lieferengpässe nach und nach überwunden werden, lassen die Nachholeffekte auch in der Industrie für sich genommen einen selbsttragenden Aufschwung erwarten.
Die ab dem Frühjahr mit dem Überwinden der Pandemie und ihrer Folgen angelegte kräftige Erholung wird durch den Kriegsausbruch in der Ukraine zunächst gebremst. Der Krieg und die politischen Reaktionen wirken angebots- und nachfrageseitig über verschiedene Kanäle als negativer Schock auf die wirtschaftliche Aktivität. Spürbar, aber gesamtwirtschaftlich von untergeordneter Bedeutung, ist der Wegfall der Exportmärkte, der insbesondere mit dem westlichen Sanktionsregime gegenüber Russland verbunden ist. Bedeutender ist die massiv gestiegene Unsicherheit über die Rohstoffversorgung, insbesondere – aber nicht nur – bei wichtigen Energierohstoffen, die den bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine in Gang gekommenen Preisauftrieb weiter angefacht hat. Damit fließt über die höhere Energieimportrechnung entsprechend mehr Kaufkraft ins Ausland ab und schwächt hierzulande die Nachfrage. Zugleich kommt es durch die kriegsbedingten Störungen zu neuen Lieferengpässen, die kurzfristig nicht zuletzt die Automobilindustrie treffen.
Im zurückliegenden Winterhalbjahr haben vor allem die Maßnahmen zum Infektionsschutz die Wirtschaftsleistung gedämpft. Unter der Voraussetzung, dass das Kriegsgeschehen in der Ukraine mit Blick auf die ökonomische Aktivität nicht weiter eskaliert, werden die konjunkturellen Auftriebskräfte ab dem Frühjahr die Oberhand gewinnen. Nach einem schwachen Jahresauftakt dürfte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal zwar deutlich zulegen, ohne die Belastung durch den Krieg in der Ukraine würde das Plus aber kräftiger ausfallen. Insgesamt verzögert sich damit der Erholungsprozess abermals. Das Vorkrisenniveau der Wirtschaftsleistung wird demnach erst im dritten Quartal des laufenden Jahres erreicht werden. Alles in allem erwarten die Institute einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von 2,7% für dieses Jahr und 3,1% für nächstes Jahr. Im kommenden Jahr driftet die deutsche Wirtschaft in eine leichte Überauslastung. Maßgeblich dafür sind der hohe Auftragsüberhang in der Industrie sowie nachholende Konsumaktivität. Weil die dämpfenden Pandemieeffekte, die vor allem die konsumnahen Wirtschaftsbereiche betreffen, früher überwunden werden als die Lieferengpässe in der Industrie, die für die Investitions- und Exporttätigkeit bedeutender ist, dominiert verwendungsseitig im laufenden Jahr die Belebung des privaten Verbrauchs, während die Bruttoanlageinvestitionen und die Exporte im kommenden Jahr verstärkt die Expansion tragen.
Die Verbraucherpreise ziehen im laufenden Jahr mit einer Rate von 6,1% so kräftig an wie seit 40 Jahren nicht mehr. Auch im kommenden Jahr bleibt die Rate mit 2,8% deutlich über dem Durchschnitt seit der Wiedervereinigung. Der Prozess beschleunigter Inflation hat bereits vor einem Jahr eingesetzt, und der Krieg in der Ukraine verschärft den Preisauftrieb zusätzlich. Dabei kommen die starken Rohstoffpreisanstiege erst nach und nach auf der Verbraucherstufe an. Allerdings treiben nicht nur höhere Energiepreise die Teuerung. So nimmt der heimische Preidruck – gemessen am Deflator des Bruttoinlandsproduktes – in beiden Prognosejahren mit über 3% deutlich zu, und auch die Kernrate der Inflation dürfte im kommenden Jahr noch bei 3,1% liegen. Insgesamt hat sich ein breit angelegter Preisdruck aufgebaut, der auch dann noch nachwirkt, wenn annahmegemäß die Rohstoffpreise wieder etwas nachgeben und die Lieferengpässe in der zweiten Jahreshälfte sukzessive nachlassen.
Der Arbeitsmarkt zeigt sich gegenüber den aus dem Krieg in der Ukraine resultierenden Belastungen für die Konjunkturrobust, weil die verzögerte Erholung der Produktion im Wesentlichen über die Arbeitszeit abgefangen werden dürfte. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt im Prognosezeitraum weiter, wenngleich mit schwächer werdender Dynamik. Hierzu trägt auch die sprunghafte Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro in diesem Jahr bei. Aufgrund der Alterung ist gegen Ende des Prognosezeitraums eine Verlangsamung des Beschäftigungsaufbaus angelegt. Dem wirkt allerdings die hier unterstellte Fluchtmigration aus der Ukraine entgegen, die das Arbeitskräfteangebot etwas erhöht. Die Arbeitslosenquote sinkt nach 5,7% im Vorjahr auf 5,0% in beiden Prognosejahren. Die Nominallöhne beschleunigen sich spürbar, werden einen Kaufkraftverlust der Arbeitnehmer im Prognosezeitraum aber nicht gänzlich verhindern können.
Im laufenden Jahr dürften die öffentlichen Haushalte mit 52 Mrd. Euro ein deutlich geringeres Defizit aufweisen als im Vorjahr (132 Mrd. Euro). Maßgeblich trägt dazu ein nur geringer Anstieg der Staatsausgaben im Zuge des Auslaufens pandemiebezogener Unternehmenshilfen bei. Gleichzeitig steigen die Staatseinnahmen im Zuge der wirtschaftlichen Erholung. Im Jahr 2023 dürften die Einnahmen mit dem kräftigen Lohnanstieg und dem robusten Arbeitsmarkt erheblich stärker als die Ausgaben steigen, sodass sich das Defizit auf knapp 28 Mrd. Euro bzw. 0,7% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt verringert. Hierbei ist unterstellt, dass die Mittel aus den kreditfinanzierten Sondervermögen, die hauptsächlich für den Klimaschutz und die Verteidigung vorgesehen sind, im Prognosezeitraum nur in geringem Umfang abfließen werden.
Das mit Abstand größte Risiko für die Prognose rührt vom Kriegsgeschehen in der Ukraine her, dessen weiterer Verlauf und politische Folgen ungewiss sind. Von der Frage, ob – und falls ja, wann – die Situation weiter eskaliert oder es zu einer Befriedung kommt, hängen insbesondere die Rohstoffpreisentwicklung, das Ausmaß der Lieferengpässe, das Sanktionsregime sowie die Fluchtbewegung ab. Die Institute nehmen an, dass die bislang verhängten Sanktionen während des gesamten Prognosezeitraums in Kraft bleiben und die russischen Energielieferungen fortgesetzt werden. Weil aber eine Lieferunterbrechung drohen könnte, dürften entsprechende Risikozuschläge und höhere Kosten für das parallel vorangetriebene Ausweichen auf alternative Lieferquellen (z. B. vermehrter Einsatz von Flüssiggas) die Energiepreise deutlich über dem Niveau halten, das ohne den Konflikt gelten würde. Jede weitere Zuspitzung dürfte unmittelbar auf die Risikoeinschätzung und somit auf wichtige Rohstoffnotierungen durchschlagen. Umgekehrt würde eine Entspannung wirken. Rohstoffpreissprünge können bei Friktionen im Überwälzungsprozess kurzfristig realwirtschaftliche Aktivität zusätzlich behindern.
Naturgemäß hängen auch die Fluchtbewegungen stark von der weiteren militärischen und politischen Entwicklung in der Ukraine ab. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Menschen werden im Westen Schutz suchen. Sollte es hingegen zu einer Befriedung kommen, wird es vor allem von den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen abhängen, wie viele Menschen in ihre Heimat zurückkehren werden. Dieser Prognose legen die Institute die Setzung zugrunde, dass in diesem Jahr 600 000 und im kommenden Jahr weitere 140 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, von denen rund ein Drittel das Arbeitskräftepotenzial erhöht, allerdings erst nach und nach auf dem Arbeitsmarkt Fuß fasst.
Im Basisszenario lässt die Inflationsdynamik zusammen mit den Preisen an den weltweiten Märkten für Energierohstoffe im Verlauf wieder nach. Es besteht allerdings angesichts von erheblichen Arbeitskräfteknappheiten in vielen Branchen und der während der Pandemie aufgestauten Kaufkraft ein erhöhtes Risiko, dass sich die Inflation stärker verfestigt und die Inflationserwartungen weiter nach oben treibt. So könnten Unternehmen ihre Preissetzungsspielräume in stärkerem Maße nutzen und darüber hinaus versucht sein, Mitarbeiter durch höhere Löhne an das Unternehmen zu binden und die Kosten an die Verbraucher weiterzureichen.
Schließlich bergen mögliche neue Virusvarianten und damit verbundene Pandemiewellen weiterhin Abwärtsrisiken. In einem solchen Fall wäre mit Aktivitätseinbußen in den kontaktintensiven Dienstleistungsbereichen und – bei Arbeitsausfällen infolge von Krankheit und Quarantäne – auch darüber hinaus zu rechnen. Ferner besteht ein erhöhtes Risiko für die internationalen Lieferketten dadurch, dass in anderen Weltregionen (insbesondere in China) die Pandemiepolitik stärker auf die Produktion durchschlägt, weil es dort weiterhin zu größeren Lockdown-Maßnahmen kommt.
Die konjunkturellen Folgen eines sofortigen Embargos von Erdöl und Erdgas für die Lieferungen von Russland in die Europäische Union betrachten die Institute in einem Alternativszenario. Die deutsche Wirtschaft dürfte in diesem Fall kommendes Jahr in eine scharfe Rezession geraten. Nach einem Dämpfer im Auftaktquartal 2023 bricht das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um fast 5% ein. Eine Erholung im Schlussquartal fängt dies zwar teilweise auf, alles in allem sinkt das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 aber um fast 2% – gegenüber einem gut dreiprozentigen Anstieg im Basisszenario. Der kumulierte Verlust an gesamtwirtschaftlicher Produktion dürfte sich bereits in den beiden Jahren 2022 und 2023 auf rund 220 Mrd. Euro belaufen, was mehr als 6,5% der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht. Die Verbraucherpreise werden mit 7,3% (2022) und 5% (2023) weitaus stärker steigen als im Basisszenario. Der durch einen Lieferstopp ausgelöste Wirtschaftseinbruch wird bis zum Ende des Prognosezeitraums noch nicht wieder aufgeholt. Im Schlussquartal verbleibt gegenüber dem Basisszenario eine Lücke von gut 4%. Auch ein abermaliger Rückschlag im Winter 2023/2024 ist möglich. In der mittleren Frist dürfte sich die Wirtschaftsleistung jedoch allmählich dem Pfad annähern, der auch für das Basiszenario gilt. Maßgeblich hierfür ist das Produktionspotenzial, das weniger durch die temporäre Gaskrise als vielmehr dadurch beeinträchtigt wird, dass Energie auf absehbare Zeit am Standort Deutschland merklich teurer sein wird, als es sich vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine darstellte. Denn die Entscheidung, unabhängig von russischen Rohstofflieferungen zu werden, dürfte auch dann noch Bestand haben, wenn sich die militärische und politische Lage wieder beruhigt. Damit muss sich ein Teil der Energieversorgung und der energieintensiven Industrie neu ausrichten.
Die anhaltend hohen Preise für Energie dürften den energiesparenden technischen Fortschritt in den kommenden Jahren deutlich beschleunigen. Dies war auch nach dem Ölpreisschock der 1970er Jahre zu beobachten. Die Ergebnisse im Schwerpunktthema dieses Gutachtens zeigen, dass ein ähnlich starker Technologieschub wie damals erforderlich ist, um die bis zum Jahr 2030 festgelegten Emissionsziele zu erreichen, wenn die ökonomische Aktivität nicht drastisch sinken soll.