Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung

Am 24. Juli 2024 hat das Bundeskabinett erste Maßnahmen aus der Wachstumsinitiative beschlossen, auf die man sich Anfang des Monats geeinigt hatte. Ziele der Wachstumsinitiative sind Impulse für mehr wirtschaftliche Dynamik und für eine Steigerung des langfristigen Wachstumspotenzials der deutschen Wirtschaft. Wie ist diese Initiative zu bewerten? Dazu sprechen wir mit Professor Dr. Oliver Holtemöller, Vize-Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und dort Leiter der Abteilung Makroökonomik.

Interviews Wirtschaftswachstum

Herr Professor Holtemöller, die Wachstumsinitiative hat zum Ziel, Anreize für mehr Wirtschaftswachstum zu geben. Ist das aus Ihrer Sicht ein richtiger Schritt?

Oliver Holtemöller: Das Wirtschaftswachstum anzukurbeln ist keine schlechte Idee. Während das Potenzialwachstum, also das um kurzfristige Konjunkturschwankungen bereinigte trendmäßige mittel- bis langfristige Wachstum der wirtschaftlichen Aktivität, im Zeitraum von 1997 bis 2023 in Deutschland 1,3% pro Jahr betrug, verlangsamt es sich seit etwa fünf Jahren erheblich und dürfte in den kommenden Jahren nur noch bei etwa 0,5% liegen. Nun ist das Wirtschaftswachstum selbst kein ökonomisches Ziel, aber ohne Wirtschaftswachstum lässt sich Wohlstand nur sehr viel schwieriger organisieren. Man denke nur an die Herausforderungen, die Verkehrsinfrastruktur, digitale Infrastruktur, Gesundheits- und Pflegewesen und die Energiewende mit sich bringen. 

Warum verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland? 

Erstens verliert die deutsche Wirtschaft an Arbeitskraft. Das in Stunden gemessene Arbeitsvolumen gerät von mehreren Seiten unter Druck: Zum einen dämpft die natürliche Demographie das Erwerbspersonenpotenzial, also die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, und zum anderen wollen die, die noch erwerbstätig sind, immer weniger Stunden arbeiten. Etwa die Hälfte des Rückgangs der Potenzialwachstumsrate von 1,3% auf 0,5% geht auf den Beitrag des Arbeitsvolumens zurück. Zweitens wird weniger investiert, sodass der Kapitalstock langsamer wächst: Während seine durchschnittliche Zuwachsrate im Zeitraum von 1997 bis 2023 bei 1,5% lag, gehen die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer Potenzialschätzung vom Frühjahr 2024 für die kommenden Jahre von nur noch 0,9% aus. Da das Gewicht des Kapitalstocks in der gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion etwa ein Drittel beträgt, bedeutet die Differenz von 0,6 Prozentpunkten einen um 0,2 Prozentpunkte niedrigeren Beitrag der Kapitalakkumulation zum Wirtschaftswachstum. Und drittens nimmt die Produktivität in Deutschland nicht mehr so stark zu wie sie das früher tat. Ihr Beitrag zum Wirtschaftswachstum hat sich in den vergangenen Jahren halbiert. Arbeitseinsatz, Investitionen und Produktivität bieten also alle drei Ansatzpunkte für eine Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums. 

Welche Wirkung kann die Wachstumsinitiative hier entfalten?

Beim Arbeitseinsatz ist die Anzahl der Erwerbstätigen von der Wirtschaftspolitik beeinflussbar. Der Trend der Arbeitsstunden je Erwerbstätigen ist hingegen seit Jahrzehnten rückläufig, hier sollte man sich darauf einstellen, dass auch künftig mit steigendem Wohlstand Freizeit für viele wichtiger wird als mehr individuelles Einkommen. Die natürliche Demographie lässt sich auch nicht wirtschaftspolitisch steuern, bleiben also Migration und Erwerbsbeteiligung als Ansatzpunkte. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist politisch genauso wenig aussichtsreich wie mehr (qualifizierte) Einwanderung, also scheint die Erwerbsbeteiligung die wichtigste Stellschraube zu sein. Hier geht es vor allem um die Arbeitsaufnahme überhaupt: Bessere Anreize für Personen, die aus der Erwerbslosigkeit heraus eine Beschäftigung aufnehmen (Stichwort Transferentzugsraten), und die Beschleunigung der Integration von Einwanderern in den Arbeitsmarkt (Spracherwerb, Anerkennung von Abschlüssen, Abbau arbeitsrechtlicher Hürden) sind diesbezüglich erforderlich. Auch die Abgabenbelastung spielt eine Rolle; hier ist aber vor allem die zu erwartende Dynamik der Sozialversicherungsbeiträge ein Bremsfaktor für Beschäftigung. Entlastungen beim Solidaritätszuschlag, wie in der Wachstumsinitiative vorgesehen, bringen quantitativ eher weniger.

Die Wachstumsinitiative mischt verschiedene Instrumente und Zielgruppen. Einige Elemente zielen auch auf die privaten Investitionen ab: Ist dies aus Ihrer Sicht ein richtiger Ansatz?

Ich denke, dass die Ausweitung von Abschreibungsspielräumen und die Forschungsförderung durchaus helfen können. Die Frage ist aber, ob dadurch die wichtigsten Engpassfaktoren adressiert werden. Vermutlich sind eine Verbesserung des regulatorischen Umfelds durch eine rationalere und besser vorausberechenbare Politik und zusätzliche öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Humankapital (Bildung) wichtiger für die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland als zusätzliche Fördermaßnahmen für private Investitionen. Und selbst wenn es gelingt, die private Investitionstätigkeit mit der Wachstumsinitiative zu stimulieren, ist der Effekt auf das Wirtschaftswachstum über das Gewicht des Kapitalstocks in der Produktionsfunktion auf wenige Zehntelprozentpunkte begrenzt; Arbeitseinsatz und Produktivität bieten einen größeren Hebel.

Wie sind die in der Wachstumsinitiative genannten wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung zu bewerten?

Der Abbau von bürokratischen Anforderungen etwa beim Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder im Vergaberecht ist nützlich, aber kein Game-Changer. Produktivitätsfortschritt basiert zu einem großen Teil auf Innovation und der Reallokation von Ressourcen (Arbeit und Kapital) von weniger produktiven hin zu produktiveren Bereichen. Damit tut sich Deutschland schwer. Es ist zwar richtig, dass der Verlust von Arbeitsplätzen oft mit schwerwiegenden individuellen Härten einhergeht. Doch wenn man zu intensiv versucht, bestehende Arbeitsplätze zu retten, oder Subventionen nach regionalen Gesichtspunkten verteilt, dann geht damit die Gefahr einher, den Produktivitätsfortschritt zu bremsen. Dass die USA Kontinentaleuropa bei der Arbeitsproduktivität immer mehr abhängen, liegt auch daran, dass jenseits des Atlantik mehr schöpferische Zerstörung stattfindet. Gerade im Hinblick auf die zu erwartende Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Industrien in Deutschland scheint der Politik hier eine klare Perspektive zu fehlen.

Was ist Ihr Gesamtfazit zur Wachstumsinitiative?

Der Ansatz, das Potenzialwachstum in Deutschland zu stärken, ist richtig. Die Wachstumsinitiative bietet auch einige nicht unwichtige Schritte, aber es sind eher Trippelschritte. Quantitativ bedeutende Wirkung dürfte die Wachstumsinitiative wohl kaum entfalten, weil sie zu den großen Herausforderungen Deutschlands – Demographie, Energiewende und Fortschritt durch Innovation – zu wenig beiträgt. Genau auf diese Punkte müsste fokussiert und mehr Wert gelegt werden, um das Potenzialwachstum zu steigern.

Die Fragen stellte Wolfgang Sender.


Zur PersonProf. Dr. Oliver Holtemöller

Prof. Dr. Oliver Holtemöller

Professor Dr. Oliver Holtemöller ist Stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und dort Leiter der Abteilung Makroökonomik.


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