Arbeitsmobilität gehört zum Strukturwandel

Der Kohleausstieg wird die betroffenen Regionen auch dadurch verändern, dass ein Teil der Beschäftigten abwandert. Die Politik sollte diesen Prozess bei der Strukturpolitik berücksichtigen, denn vollständig verhindern lässt er sich nicht. Das verdeutlicht eine vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) veröffentlichte Studie an einem historischen Beispiel.

Autoren Oliver Holtemöller

Wenn Beschäftige mobil sind, leisten sie einen wesentlichen Beitrag zu einem gelingenden Strukturwandel. Das gilt auch, aber längst nicht nur, für die drei deutschen Braunkohlereviere in der Lausitz, in Mitteldeutschland und dem Rheinland: Sie werden wegen des Kohleausstiegs in den nächsten Jahren einen Teil der angestammten Arbeitskräfte verlieren. Wie eine Analyse des IWH-Ökonomen Richard Bräuer und seiner beiden Koautoren Wolf-Fabian Hungerland und Felix Kersting zeigt, kam es schon in der Vergangenheit zu starker Abwanderung, wenn eine Region von einem wirtschaftlichen Einschnitt betroffen war. Die drei Wissenschaftler untersuchten Wandlungsprozesse in Preußen in den Jahren 1880 bis 1913. Damals wurde mehr und mehr Getreide aus den USA und Argentinien importiert, was die Preise auf dem deutschen Markt drückte. In den getreideproduzierenden Landkreisen wanderten viele Beschäftigte ab, die absolute Wirtschaftsleistung sank. Jedoch blieb das Durchschnittseinkommen vor Ort konstant, und weder stieg die Sterblichkeit der Bevölkerung noch der Zuspruch zur extremen Rechten. Die Arbeitsmobilität half bei der Bewältigung des wirtschaftlichen Schocks.

Bei allen Unterschieden zwischen dem Preußen von damals und den Braunkohleregionen von heute liefert die Studie ein weiteres Beispiel, das frühere Analysen des IWH stützt. „Arbeitsmigration ist ein wichtiger Ausgleichsmechanismus im Strukturwandel“, sagt IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller. Gut qualifizierte Personen, die ihren Arbeitsplatz in der Braunkohlewirtschaft verlieren, können in vielen Regionen Deutschlands gegenwärtig relativ leicht gut bezahlte Alternativen finden. „Es wird Abwanderung geben aus den Regionen, die vom Kohleausstieg betroffen sind. Bei der heutigen politischen Planung sollte man davon ausgehen, dass die Anzahl der Erwerbspersonen dort erst einmal etwas zurückgehen wird.“ Laut Holtemöller sei es vor allem Aufgabe der Politik, den betroffenen Beschäftigten zu helfen, etwa durch Hilfen zum Umzug oder indem die Infrastruktur für Pendler weiter verbessert wird. Denn Pendler stützen die Kaufkraft in einer Region. Außerdem sei es wichtig, die Regionen attraktiv für die Zuwanderung neuer Arbeitskräfte zu gestalten.

Zur Methodik der Studie:

Für ihre Studie verglichen die drei Ökonomen zwei Arten von Landkreisen innerhalb derselben preußischen Provinzen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg: solche, die auf Getreideanbau spezialisiert waren, mit jenen, in denen beispielsweise Gemüseanbau oder Tierproduktion vorherrschte. Erstere erlebten einen Handelsschock wegen der steigenden Getreideimporte aus Amerika, von dem letztere nicht oder kaum berührt wurden. Durch den Vergleich der beiden Landkreis-Arten konnten die Forscher ermitteln, inwiefern der Schock sich auf Einkommen, Beschäftigung, Sterblichkeit und den Erfolg bestimmter Parteien auswirkte. Dabei nutzten sie unterschiedliche Techniken, um sicherzustellen, dass die Effekte durch den Schock und nicht durch andere Faktoren ausgelöst wurden. Bei ihren Berechnungen bezogen die Wissenschaftler verschiedene Datenquellen ein, etwa zur geographischen Lage, zur Vermögensverteilung und zum Stand der technischen Entwicklung der Landkreise. Somit konnten sie ihre oben genannten Ergebnisse erhärten.

Veröffentlichungen:

Richard Bräuer, Wolf-Fabian Hungerland, Felix Kersting: Handelsschocks, Arbeitsmärkte und Wohlstand während der ersten Globalisierung, in: IWH, Wirtschaft im Wandel, Jg. 28 (1), 2022, 10-13. Halle (Saale) 2022.

Richard Bräuer, Wolf-Fabian Hungerland, Felix Kersting: Trade Shocks, Labour Markets and Elections in the First Globalisation. IWH-CompNet Discussion Papers 4/2021. Halle (Saale) 2021.

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