IWH untersucht Folgen des Kohleausstiegs in Europa
Der Bundestag entscheidet am Freitag (03.07.2020) über das „Kohleausstiegsgesetz“ und das „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hat analysiert, welche ökonomischen Folgen in den drei deutschen Braunkohlerevieren zu erwarten sind. Demnach sind das Rheinland und Mitteldeutschland, vor allem aber die Lausitz von sinkenden Löhnen, steigender Arbeitslosigkeit und Abwanderung betroffen. Im Rahmen eines von der EU geförderten Forschungsvorhabens wird diese Analyse nun auf weitere europäische Regionen ausgeweitet, darunter Regionen in Italien, Österreich, Polen, Spanien und Großbritannien. Damit beteiligt sich das Institut an einem neuen Forschungsprojekt von insgesamt 14 Wissenschaftseinrichtungen aus zwölf Ländern Europas. Sie untersuchen interdisziplinär, was der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen für die Menschen in den betroffenen Regionen bedeutet. Wie beeinflusst der Umbruch die Landschaft, die Politik vor Ort oder auch die Geschlechtergerechtigkeit, wenn viele Industriejobs wegfallen? Die Europäische Union finanziert das von der University of A Coruña koordinierte Gesamtvorhaben namens ENTRANCES (“ENergy TRANsitions from Coal and Carbon: Effects on Societies”) für drei Jahre im Rahmen des EU-Forschungsprogramms Horizont 2020 mit knapp drei Millionen Euro.
Verantwortlich für den IWH-Beitrag zum Projekt ist Oliver Holtemöller, stellvertretender Institutspräsident und Leiter der Abteilung Makroökonomik. Dort sind neben der Konjunkturforschung auch gesamtwirtschaftliche Aspekte der Klimapolitik Bestandteil der Forschungsagenda. Eine Aufgabe dabei ist, faktenbasiertes Wissen für Politik und Verwaltungen bereitzustellen, damit diese rationale Entscheidungen treffen können. Politische Maßnahmen sollten möglichst zielgenau sein, damit knappe Ressourcen zum bestmöglichen Nutzen der gesamten Bevölkerung verwendet werden, sagt Holtemöller. Vor diesem Hintergrund kritisiert er die strukturpolitischen Maßnahmen für die Kohleregionen in Deutschland, die sich auf 40 Milliarden Euro belaufen und vorwiegend auf Sachinvestitionen abzielen. Maßnahmen zur Förderung des Strukturwandels sollten aber vornehmlich an den wichtigsten langfristigen Wachstumstreibern Bildung sowie Forschung und Entwicklung ansetzen und vor allem das Humankapital stärken. Die öffentliche Infrastruktur sei zwar auch wichtig. Eine Konzentration auf die Förderung von Sachinvestitionen, auf die Industrie oder auf bestimmte Technologien sei jedoch wenig aussichtsreich in Bezug auf langfristige ökonomische Ziele. „Es ist wahrscheinlich, dass die vorgesehenen Strukturhilfen die Wachstumsperspektiven insbesondere der ostdeutschen Reviere insgesamt nicht nachhaltig stärken“, sagt Holtemöller. Die Erkenntnisse aus dem neuen Forschungsprojekt werden der EU-Kommission und den nationalen Regierungen gleichermaßen zur Verfügung gestellt.
IWH-Expertise zum Braunkohleausstieg
Drygalla, Andrej; Heinisch, Katja; Holtemöller, Oliver; Lindner, Axel; Schult, Christoph; Wieschemeyer, Matthias; Zeddies, Götz: Sinkendes Potenzialwachstum in Deutschland, beschleunigter Braunkohleausstieg und Klimapaket: Finanzpolitische Konsequenzen für die Jahre bis 2024, in: IWH, Konjunktur aktuell, Vol. 7 (4), 2019, 109-120.
Holtemöller, Oliver; Schult, Christoph: Zu den Effekten eines beschleunigten Braunkohleausstiegs auf Beschäftigung und regionale Arbeitnehmerentgelte, in: IWH, Wirtschaft im Wandel, Vol. 25 (1), 2019, 5-9.
Holtemöller, Oliver; Schult, Christoph: Stellungnahme zum „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ anlässlich der Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestages am 15. Mai 2019. IWH Online 2/2019. Halle (Saale) 2019.
Oei, Pao-Yu; Hermann, Hauke; Herpich, Philipp; Holtemöller, Oliver; Lünenbürger, Benjamin; Schult, Christoph: Coal Phase-out in Germany – Implications and Policies for Affected Regions, in: Energy – The International Journal, Volume 196, 2020, 117004.
Oei, Pao-Yu et al.: Klimaschutz und Kohleausstieg: Politische Strategien und Maßnahmen bis 2030 und darüber hinaus, Abschlussbericht für das Umweltbundesamt (Forschungskennzahl 3716 41 1210), in: Climate Change 27/2019, https://www.umweltbundes amt.de/publikationen/klimaschutz-kohleausstieg-politische-strategien.
Partner des EU-Forschungsprojekts ENTRANCES („ENergy TRANsitions from Coal and Carbon: Effects on Societies“):
- University of A Coruña (UDC), Spanien
- Agenzia nazionale per le nuove tecnologie, l'energia e lo sviluppo economico (ENEA), Italien
- Knowledge and Innovation – Rome (K&I), Italien
- Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Deutschland
- Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Deutschland
- Centre for Social Innovation (ZSI), Österreich
- Norwegian University of Science and Technology (NTNU), Norwegen
- European Association of Development Agencies (EURADA), Belgien
- Instytut Gospodarki Surowcami Mineralnymi i Energią PAN (IGSMiE PAN), Polen
- Faculty of Psychology and Education – University ‘Alexandru Ioan Cuza
- University’ of Iasi (UAIC), Rumänien
- Sociedade Portuguesa de Inovação (SPI), Portugal
- Women Engage for a Common Future, Frankreich
- Center of Social and Psychological Sciences, Slowakei
- Cardiff University, Großbritannien
Dieses Projekt erhält Fördermittel aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union im Rahmen des Fördervertrages Nr. 883947.
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Die IWH-Expertenliste bietet eine Übersicht der IWH-Forschungsthemen und der auf diesen Gebieten forschenden Wissenschaftler/innen. Die jeweiligen Experten für die dort aufgelisteten Themengebiete erreichen Sie für Anfragen wie gewohnt über die Pressestelle des IWH.
Zugehörige Publikationen
Sinkendes Potenzialwachstum in Deutschland, beschleunigter Braunkohleausstieg und Klimapaket: Finanzpolitische Konsequenzen für die Jahre bis 2024
in: Konjunktur aktuell, 4, 2019
Abstract
Nach der Mittelfristprojektion des IWH wird das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland in den Jahren bis 2024 preisbereinigt um durchschnittlich 1% wachsen; das nominale Bruttoinlandsprodukt wird um durchschnittlich 2¾% zunehmen. Die Durchschnittswerte verschleiern die Tatsache, dass das Wachstum gegen Ende des Projektionszeitraums aufgrund der dann rückläufigen Erwerbsbevölkerung spürbar zurückgehen wird. Dies wird sich auch bei den Staatseinnahmen niederschlagen. Allerdings wird die Bevölkerung nicht regional gleichverteilt zurückgehen. Strukturschwache Regionen dürften stärker betroffen sein. Die regionalen Effekte auf die Staatseinnahmen werden zwar durch Umverteilungsmechanismen abgefedert, aber nicht völlig ausgeglichen. Regionen mit schrumpfender Erwerbsbevölkerung müssen sich auf einen sinkenden finanziellen Spielraum einstellen. Der beschleunigte Braunkohleausstieg wird diesen Prozess verstärken, das Klimapaket der Bundesregierung hat hingegen vergleichsweise geringe Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen.
Zu den Effekten eines beschleunigten Braunkohleausstiegs auf Beschäftigung und regionale Arbeitnehmerentgelte
in: Wirtschaft im Wandel, 1, 2019
Abstract
Ohne weitere staatliche Maßnahmen können die Klimaschutzziele der Bundesregierung nicht erreicht werden. Eine Möglichkeit, Emissionen zu reduzieren, ist der Ausstieg aus der Braunkohleverbrennung. Die Braunkohlenwirtschaft zahlt allerdings doppelt so hohe Löhne im Vergleich zum durchschnittlichen Lohnniveau. Der Braunkohleausstieg wird voraussichtlich Einkommenseinbußen und Abwanderung aus den Braunkohleregionen mit sich bringen.
Stellungnahme zum „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ anlässlich der Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestages am 15. Mai 2019
in: IWH Online, 2, 2019
Abstract
Die Bundesregierung plant, bis zum Jahr 2038 die Produktion von Strom aus Braunkohle zu beenden. Den von dem Braunkohleausstieg besonders betroffenen Regionen will die Bundesregierung finanzielle Hilfe für den Strukturwandel gewähren. Dazu soll das „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ beschlossen werden. In dieser Stellungnahme werden ökonomische Aspekte des vorgesehenen beschleunigten Braunkohleausstiegs diskutiert. Zentrale Aussagen der Stellungnahme sind, dass ein beschleunigter Braunkohleausstieg zwar geeignet ist, nationale Emissionsziele zu erreichen, aber die europäischen bzw. globalen Treibhausgasemissionen dadurch kaum beeinflusst werden. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten eines beschleunigten Braunkohleausstiegs dürften überschaubar sein, aber die wirtschaftliche Entwicklung in einzelnen Regionen würde aufgrund der regionalen Konzentration des Braunkohleabbaus deutlich beeinträchtigt werden. Maßnahmen zur Förderung des Strukturwandels in den betroffenen Regionen sollten an den wichtigsten langfristigenWachstumstreibern Bildung sowie Forschung und Entwicklung ansetzen und vor allem das Humankapital stärken. Eine Konzentration auf die Förderung von Sachinvestitionen, auf die Industrie oder auf bestimmte Technologien ist hingegen nicht aussichtsreich in Bezug auf langfristige ökonomische Ziele.