Wirtschaft im Osten Deutschlands dürfte von Krieg in Ukraine nicht stärker getroffen werden als in Deutschland insgesamt – Implikationen der Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2022 und amtlicher Länderdaten für die ostdeutsche Wirtschaft
Die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose konstatiert in ihrem Frühjahrsgutachten, dass sich die mit dem Abklingen der Pandemie einhergehende Erholung der deutschen Wirtschaft aufgrund des Angriffs Russlands auf die Ukraine deutlich abschwächt. Im Prinzip gilt das auch für die ostdeutsche Wirtschaft. Allerdings waren hier Wirtschaftseinbruch und -erholung nicht so stark ausgeprägt wie im Westen Deutschlands. „Öffentliche Dienstleister, welche von konjunkturellen Schwankungen weniger betroffen sind als die Privatwirtschaft, haben im Osten ein besonders großes Gewicht. So hat die ostdeutsche Produktion im Jahr 2021 mit 2,3% um 0,6 Prozentpunkte weniger stark zugenommen als in Deutschland insgesamt“, sagt Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Auffallend ist der deutliche Rückgang der Bauproduktion um 2,3% (Deutschland insgesamt: –0,5%). Er fiel in Berlin mit –3,5% besonders stark aus, nachdem sie dort schon im Jahr 2020 leicht gesunken war. Darin spiegelt sich aber keine Krise der Berliner Wirtschaft insgesamt, denn diese hat mit 3,3% deutlich schneller expandiert als die in anderen ostdeutschen Ländern.
Auch in den Jahren 2022 und 2023 dürfte die ostdeutsche Produktion mit 2,1% bzw. 2,5% jeweils reichlich einen halben Prozentpunkt langsamer als in Deutschland insgesamt expandieren. Dabei wird der Krieg in der Ukraine die ostdeutsche Wirtschaft vermutlich in etwa genauso hart wie die in Deutschland insgesamt treffen. Darauf deutet unter anderem hin, dass der Anteil der nach Russland, Belarus und die Ukraine exportierten Waren an allen Warenexporten für die ostdeutschen Länder im Jahr 2021 mit 2,2% in etwa genauso hoch war wie für Deutschland insgesamt.
Allerdings besteht das Risiko eines Stopps der russischen Lieferungen von Erdöl und Erdgas, durch die ein Großteil des ostdeutschen Verbrauchs gedeckt wird. Unter diesen Bedingungen wäre mit einer bundesweiten Bewirtschaftung von Erdgas zu rechnen, weil die russischen Lieferungen anders als die von Erdöl kurzfristig nicht durch andere Anbieter ersetzt werden könnten. Für diesen Fall prognostizieren die Institute eine Produktionsausweitung von 1,9% im Jahr 2022 und einen Rückgang um 2,2% im Jahr 2023. Für Ostdeutschland wäre mit Raten von 1,2% im Jahr 2022 und – 1,5% im Jahr 2023 zu rechnen. „Die Rezession fällt im Osten also flacher aus, und zwar, weil das stark betroffene Verarbeitende Gewerbe ein geringeres Gewicht als im Westen hat“, so Oliver Holtemöller. Zudem ist der Anteil der acht besonders energieintensiven Wirtschaftszweige am gesamten Verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutschland gemessen an deren Bruttolohn- und Gehaltssumme mit etwa 50% deutlich niedriger als in Westdeutschland (etwa 60%).1
Die Arbeitslosenquote nach der Definition der Bundesagentur für Arbeit fällt, wenn es nicht zu einem Gasstopp kommt, von 7,1% im Vorjahr auf 6,4% im Jahr 2022. Der Rückgang kommt aufgrund der diesjährigen starken Anhebung des Mindestlohns im Jahr 2023 zum Stehen. Im Fall eines Gasstopps beträgt die Quote in diesem Jahr 6,5%, im Jahr 2023 steigt sie auf 7,1%.
1 Die Wirtschaftszweige sind aufgelistet in: Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Ein alternatives Szenario: EU ohne Energierohstoffe aus Russland – Methodenbeschreibung. Materialien, Nr. 1, 2022, Tabelle 2.
Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2022:
Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress. April 2022. Kiel 2022.
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Zugehörige Publikationen
Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress
in: Dienstleistungsauftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, 1, 2022
Abstract
Die deutsche Wirtschaft steuert durch schwieriges Fahrwasser. Die Auftriebskräfte durch den Wegfall der Pandemiebeschränkungen, die Nachwehen der Corona-Krise und die Schockwellen durch den Krieg in der Ukraine sorgen für gegenläufige konjunkturelle Strömungen. Allen Einflüssen gemeinsam ist ihre preistreibende Wirkung. Im zurückliegenden Winterhalbjahr haben vor allem die Maßnahmen zum Infektionsschutz die Wirtschaftsleistung gedämpft. Unter der Voraussetzung, dass das Kriegsgeschehen in der Ukraine mit Blick auf die ökonomische Aktivität nicht weiter eskaliert, werden die konjunkturellen Auftriebskräfte ab dem Frühjahr die Oberhand gewinnen. Nach einem schwachen Jahresauftakt dürfte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal zwar deutlich zulegen, ohne die Belastung durch den Krieg in der Ukraine würde das Plus aber kräftiger ausfallen. Insgesamt verzögert sich damit der Erholungsprozess abermals. Das Vorkrisenniveau der Wirschaftsleistung wird demnach erst im dritten Quartal des laufenden Jahres erreicht werden. Alles in allem erwarten die Institute einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von 2,7% für dieses Jahr und 3,1% für nächstes Jahr. Im kommenden Jahr driftet die deutsche Wirtschaft in eine leichte Überauslastung. Maßgeblich dafür sind der hohe Auftragsüberhang in der Industrie sowie nachholende Konsumaktivität. Im Falle eines sofortigen Embargos für die Öl- und Gaslieferungen aus Russland in die Europäische Union würde hingegen die deutsche Wirtschaft in eine scharfe Rezession geraten. Der kumulierte Verlust an gesamtwirtschaftlicher Produktion dürfte sich in diesem Fall bereits in den beiden Jahren 2022 und 2023 auf rund 220 Mrd. Euro belaufen, was mehr als 6,5% der jährlichen Wirschaftsleistung entspricht.