Analyse der Effekte des Atomausstiegs auf die deutschen Großhandelsstrompreise 2023
Seit dem Atomausstieg am 15. April 2023 sind die Großhandelsstrompreise in Deutschland deutlich gesunken. Innerhalb des deutschen Merit-Order-Systems galten Atomkraftwerke als die kostengünstigste Form der Stromerzeugung. Hätten die Atomkraftwerke weiterbetrieben werden können, wären die Großhandelsstrompreise für den Zeitraum vom 16. April 2023 bis zum 31. Dezember 2023 voraussichtlich um 1% bis 8% niedriger gewesen. Insbesondere im Oktober hätte der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die Großhandelsstrompreise gesenkt, vor allem in Zeiten hoher Stromnachfrage und geringer Verfügbarkeit erneuerbarer Energien.
02. Oktober 2024
Deutschland hat am 15. April 2023 seine letzten Atomkraftwerke abgeschaltet. Beschlossen wurde der Atomausstieg von der Bundesregierung schon im Jahr 2002; nach dem Unglück von Fukushima im Jahr 2011 wurde das endgültige Ausstiegsdatum für das Jahr 2022 festgelegt.1 Aufgrund der durch den russischen Angriffskrieg ausgelösten Erdgaskrise wurde zur Sicherung der Stromversorgung die Laufzeit der letzten drei Atomkraftwerke noch einige Monate verlängert. Im Jahr 2022 waren noch die Atomkraftwerke Emsland A, Isar 2 und Neckarwestheim II in Betrieb. Sie trugen ungefähr 4 GW zu der in Deutschland insgesamt installierten Leistung bei und deckten mit 33 TWh ca. 7% der deutschen Stromnachfrage von insgesamt 480 TWh ab.
Mier hat im Jahr 2022 mit Hilfe eines Strommarktmodells geschätzt, dass eine weitergehende Laufzeitverlängerung die Großhandelsstrompreise im Jahr 2023 um 4% und für das Jahr 2024 um 2% verringert hätte.2 Diese Studie geht davon aus, dass eine Laufzeitverlängerung bis zum Jahr 2030 im Vergleich zu einem Szenario ohne Laufzeitverlängerung zu einer Reduktion der Investitionen in erneuerbare Energien führen würde. Nach Egerer et al. (2022) hätte eine Laufzeitverlängerung den Großhandelsstrompreis sogar um 5% bis 15% im Jahr 2024 reduziert.3 Beide Studien basieren auf Strommarktmodellen, die den Strompreis durch Kostenminimierung ermitteln. Die unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich auf unterschiedliche Annahmen bezüglich des Ausbaus der erneuerbaren Energien, der Stromnachfrage und der Erdgaspreise zurückführen.
Mittlerweile ist die Entwicklung der Gaspreise, der Stromnachfrage und der Verfügbarkeit von Strom aus europäischen Nachbarländern im Jahr 2023 bekannt. Deshalb können die hypothetischen Strompreiseffekte einer Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke besser abgeschätzt werden. Im Folgenden wird die Abschätzung für das Jahr 2023 zudem mit Hilfe einer dynamischen Merit-Order-Analyse basierend auf tatsächlichen Strompreisen, Weltmarktpreisen und Erzeugungsverhalten statt mit simulierten Strommarktmodellen und prognostizierten Weltmarktpreisen durchgeführt.
Dynamische Merit-Order-Analyse
Das Merit-Order-System gewährleistet, dass die Stromnachfrage, die nicht durch erneuerbare Energien gedeckt wird (Residuallast), von Kraftwerken bedient wird, die die niedrigsten Grenzerzeugungskosten haben (vgl. Abbildung 1). In diesem System orientiert sich die Festlegung der Strompreise an den zusätzlichen Kosten, die für die Bereitstellung einer weiteren Erzeugungseinheit anfallen. Diese Grenzkosten variieren je nach Faktoren wie Brennstoffkosten, Effizienz der Anlage, Emissionskosten und anderen variablen Kosten (EWI 2024).4
Während die Effizienz des Kraftwerksparks im unterjährigen Verlauf konstant ist, schwanken besonders die Kosten von international gehandelten fossilen Brennstoffen, also Steinkohle, Erdgas und Erdöl, stark mit ihren Weltmarktpreisen. Hinzuzurechnen sind Kosten für den Erwerb von CO2-Emissionszertifikaten, die im Fall der Braunkohle besonders ins Gewicht fallen.5 Das durchschnittliche Steinkohlekraftwerk in Deutschland hat Grenzkosten von ungefähr 130 EUR/MWh, bei Erdgaskraftwerken betragen sie etwa 50 EUR/MWh bei einem Erdgaspreis von 42 EUR/MWh und einem deutschen Emissionszertifikatpreis von 92 EUR/MWh. Die Grenzkosten von Kernkraftwerken sind weniger volatil. Sie hängen wesentlich von den Kapitalkosten ab. Da alle Kernkraftwerke im deutschen Merit-Order-System im Jahr 2023 vollständig abgeschrieben waren, fielen sehr geringe Grenzkosten von 15 EUR/MWh an. Schließlich verwenden Braunkohlekraftwerke heimische Braunkohle, deren Förderungskosten nur ungefähr 3 EUR/MWh betragen. Durch die Kosten des Erwerbs von Emissionszertifikaten wegen des hohen CO2-Ausstoßes steigen die Grenzkosten für Braunkohleverstromung aber auf ca. 100 EUR/MWh.
Am 15.04.2023, dem letzten Tag, an dem noch Kernkraftwerke zur Verfügung standen, betrug die durchschnittliche stündliche Residuallast in Deutschland ungefähr 30 GWh. Laut Merit-Order waren Braunkohlekraftwerke die teuersten Kraftwerke. Deren Grenzkosten entsprachen ungefähr dem beobachteten Großhandelsstrompreis von 105 EUR/MWh. Zur Berechnung der Grenzkosten von Erdgas-, Steinkohle- und Erdölkraftwerken im weiteren Jahresverlauf werden Weltmarktpreise und der deutsche Emissionszertifikatpreis verwendet. Die Berechnung wurde in zwei Szenarien unterteilt: ein Szenario, das auf der heute installierten Kraftwerksleistung basiert (ohne AKW), und ein weiteres, das den Weiterbetrieb der drei deutschen Kernkraftwerke berücksichtigt: Neckarwestheim 2, Emsland A und Isar 2 (mit AKW).
Großhandelsstrompreise im Jahr 2023
Im Jahr 2023 lag der durchschnittliche Großhandelsstrompreis in Deutschland bei 95 EUR/MWh. Gemäß der Merit-Order-Analyse beliefen sich die durchschnittlichen Grenzkosten auf 113 EUR/MWh ohne den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke (erstes Szenario) und auf 110 EUR/MWh mit dem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke (zweites Szenario). Insbesondere im Oktober hätte ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die durchschnittlichen Grenzkosten gesenkt. Der Großhandelsstrompreis konnte vermutlich deshalb unterhalb der Grenzkosten liegen, weil aus den europäischen Nachbarländern importierter Strom einen Teil der heimischen Erzeugung verdrängt hat. Es lässt sich ein linearer Zusammenhang zwischen dem Großhandelsstrompreis und den geschätzten Grenzkosten ableiten.
Auf Basis der geschätzten Regressionsgleichung werden dann die Preise in den beiden Szenarien ermittelt. Die Methode zeigt den größten Effekt auf den Börsenstrompreis für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke im Oktober 2023. Insbesondere in der letzten Oktoberwoche 2023 hätten die Börsenstrompreise um ungefähr 20 EUR/MWh niedriger gelegen (vgl. Abbildung 2). An den meisten Tagen im Oktober überlappen sich aber die 90% Konfidenzintervalle der beiden Szenarien. Über das gesamte Jahr 2023 betrachtet wäre der Großhandelsstrompreis mit einem Weiterbetrieb der AKW laut dieser Analyse zwischen 1 EUR/MWh und 7 EUR/MWh geringer ausgefallen (entspricht einer Reduktion von 1% bis 8%).
Fazit
Im europäischen Vergleich lagen die deutschen Großhandelspreise für Strom 2023 mit 95 EUR/MWh zwischen denen von Italien (123 bis 237 EUR/MWh) und Schweden (44 bis 51 EUR/MWh). Der Großhandelsstrompreis in Frankreich und Deutschland betrug 2022 jeweils 275 EUR/MWh und 235 EUR/MWh und sank bis 2023 auf 95 EUR/MWh. Somit lag der deutsche Großhandelsstrompreis unter den Preisen von acht der zwölf EU-Länder, die Atomkraftwerke betreiben.
Der Preisrückgang ist hauptsächlich auf die gesunkenen Erdgaspreise zurückzuführen, die von 124 EUR/MWh im Jahr 2022 auf 41 EUR/MWh im Jahr 2023 fielen. Schätzungen zufolge hätte der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke den Strompreisverfall um zusätzliche 1 bis 7 EUR/MWh verstärken können. Besonders im Oktober 2023 hätte dies zu einer weiteren Senkung der Großhandelsstrompreise beigetragen. Die vorliegende Analyse berücksichtigt jedoch nicht die expliziten Kosten einer Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken. Laut der Internationalen Energieagentur würden sich die Grenzkosten bei gleichbleibender Auslastung der Atomkraftwerke verdoppeln, jedoch weiterhin die kostengünstigste konventionelle Erzeugungskapazität darstellen. Die Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke hatte insgesamt nur geringe Auswirkungen auf den Strompreis, was auf den geringen Anteil der installierten Leistung an der Gesamtleistung zurückzuführen ist.
Die aktuellen Strompreise werden hauptsächlich durch die Entscheidungen zum Atomausstieg in den Jahren 2002 und 2011 beeinflusst, welche zur Stilllegung von Kraftwerkskapazitäten führten, die etwa der heutigen installierten Kapazität von Steinkohlekraftwerken entsprechen. Wäre diese Kernkraftwerkskapazität noch in Betrieb, wäre die derzeitige Stromerzeugung nahezu vollständig dekarbonisiert, vorausgesetzt, die heutige installierte Leistung erneuerbarer Energien bliebe unverändert.
Für die ökonomische Beurteilung des Atomausstiegs ist der Strompreis nur dann ein valides Kriterium, wenn er alle möglichen negativen Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft berücksichtigt. Wesentlich sind hierbei die Endlagerung des Atommülls und die Sicherheit des Betriebs der Kernkraftwerke. Nur wenn ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke keine direkte Auswirkung auf die Endlagersuche hat, wäre diese negative Externalität irrelevant. Das Risiko eines atomaren Zwischenfalls in Deutschland wurde durch die Abschaltung stark reduziert, aber nicht vollständig eliminiert, da Deutschland weiterhin Atomstrom aus Nachbarländern importiert. Zwischenfälle in diesen Ländern könnten ebenfalls negative Auswirkungen auf Deutschland haben.
Endnoten
1 Ursprünglich sollte die Laufzeit der Atomkraftwerke bis 2040 verlängert werden. Siehe: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/520059/atomausstieg-deutschland-verabschiedet-sich-endgueltig-von-der-kernkraft/.
2 Mier, M.: Erdgas- und Strompreise, Gewinne, Laufzeitverlängerungen und das Klima, in: ifo Schnelldienst 9/2022, 75. Jahrgang 14.September 2022, 20-26.
3 Egerer, J.; Grimm, V.; Lang, L. M.; Pfefferer, U.; Sölch, C.: Mobilisierung von Erzeugungskapazitäten auf dem deutschen Strommarkt, in: Wirtschaftsdienst, Vol. 102 (11), 2022, 846-854.
4 Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (Hrsg.): EWI Merit-Order Tool 2023 – Dokumentation. Abgerufen von https://www.ewi.uni-koeln.de/de/publikationen/ewi-merit-order-tool-2023/, 2024.
5 Erdölkraftwerke sind die teuersten Kraftwerke und kommen daher nur selten zum Einsatz; sie bedienten im Jahr 2023 nur 1% der Stromnachfrage.