Anreizwirkungen der Sozialhilfe auf das Arbeitsangebot im Niedriglohnbereich
Im September 2000 hat das Bundesministerium der Finanzen dem IWH den Auftrag erteilt, eine Studie unter dem Titel "Zu den Anreizwirkungen der Sozialhilfe - Das Angebotsverhalten arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger" zu erstellen. Die Ausgangshypothese bestand darin, dass das gegenwärtige Transfersystem Fehlanreize im Hinblick auf die Erwerbsbereitschaft von arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern setzt. Für Personen, deren am Markt erzielbarer Lohn nicht hinreichend weit über dem Sozialhilfeanspruch liegt, ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit relativ unattraktiv. Für diesen Personenkreis steigt das verfügbare Einkommen durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nur unwesentlich an, da das Erwerbseinkommen fast vollständig auf die Sozialhilfe angerechnet wird. Davon betroffen sind vor allem gering Qualifizierte, aber auch Ältere. Daraus resultiert zum einen ein starker Anreiz zur Schwarzarbeit. Zum anderen dürfte in den angesprochenen Fehlanreizen eine der Hauptursachen der Langzeitarbeitslosigkeit zu suchen sein. Wer keine anderen Jobangebote erhält als solche, die gemessen an der Alternative des Transferbezugs unattraktiv erscheinen, und wer diese deshalb ausschlägt, gerät in einen schleichenden Prozess der Entwöhnung von Erwerbsarbeit. Früher oder später stellen sich die bekannten negativen Begleiterscheinungen ein: psychische Verletzungen, Verlust von Selbstwertgefühl und der Fähigkeit zur Selbstorganisation, Alkoholkonsum und dergleichen. Was an Arbeitsfähigkeit am Beginn eines solchen Prozesses noch vorhanden war, schwindet mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit.
31. Oktober 2002
Am Ende dieses Prozesses stehen oft Menschen, die nur noch mit hohem sozialpädagogischen Betreuungsaufwand und nur sehr behutsam wieder an das Arbeitsleben herangeführt werden können. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt und nachvollziehbar, wenn sich Praktiker in Sozialämtern und Beratungsstellen auf die unmittelbare Hilfestellung konzentrieren. Durchaus zu Recht kann hier auch auf Erfolge etwa im Hinblick auf psychische Stabilisierung der Betroffenen verwiesen werden. Dies wiederum dient einem inzwischen gar nicht mehr so unbedeutenden Wirtschaftszweig als Rechtfertigung für die Notwendigkeit zur Durchführung von Beschäftigungsmaßnahmen und einschlägigen Qualifizierungsprogrammen. Da wird es schon als Erfolg angesehen, wenn ein Teilnehmer morgens pünktlich zur Arbeit erscheint und nicht vorzeitig wieder nach Hause geht.
Dennoch greift die "soziale" Sichtweise zu kurz. Sie blendet nämlich die Frage aus, wieso es eigentlich dazu kommt, dass ein immer größer werdender Teil von Menschen in Deutschland in die Langzeitarbeitslosigkeit und damit sukzessive in die Sozialhilfeabhängigkeit gerät. Ähnlich wie der Wald, der vor lauter Bäumen aus der Wahrnehmung schwindet, geraten die strukturellen Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit angesichts der Einzelschicksale aus dem Blickfeld. Mit dieser Feststellung soll keineswegs die verdienstvolle und engagierte Arbeit im Umfeld der Sozialarbeit diskreditiert werden. Vielmehr soll die Aufmerksamkeit auf eine Sichtweise gelenkt werden, die es gestattet, präventiv tätig zu werden. Statt der Erhaltung eines aufwendigen Reparaturbetriebs für die Folgen struktureller Fehlanreize besteht das Ziel darin, Sozialhilfeabhängigkeit möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen. Statt Symptome sollten Ursachen bekämpft werden.
Mit Hilfe von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen lassen sich die strukturellen Fehlanreize nur dann überwinden, wenn es gelingt, die Teilnehmer durch die Maßnahmenteilnahme auf ein höheres Marktlohnniveau als zu Beginn der Arbeitslosigkeit zu bringen. Abgesehen davon, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise für entsprechende Qualifizierungsangebote zugänglich sind, bedeutet das einen hohen Leistungsanspruch an die durchgeführten Maßnahmen. Das Ziel der Wiederherstellung der prinzipiellen Arbeitsfähigkeit dürfte diesem Anspruch kaum genügen. Auch der Versuch, Maßnahmenteilnehmer mit Hilfe einer zeitlich befristeten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung unter kommunaler Verantwortung anschließend in die Finanzierungsverantwortung der Bundesanstalt für Arbeit zu entlassen, greift zu kurz. Ein darauf ausgerichtetes System reproduziert letztlich nur sich selbst. Unter solchen Bedingungen ist es nur eine Frage der Zeit, wann ein Maßnahmenteilnehmer in die Sozialhilfeabhängigkeit zurückfällt.
Vor diesem Hintergrund bestand das Ziel des Gutachtens darin, das zunehmende arbeitsmarktpolitische Engagement von Kommunen zu untersuchen und neue Erkenntnisse im Hinblick auf die Wirksamkeit der dabei zur Anwendung kommenden Politikinstrumente zu gewinnen. Die Fragen, denen nachgegangen wurde, lauteten: Sind solche Maßnahmen geeignet, die geschilderten institutionellen Fehlanreize zu überwinden? Für welche Art von Maßnahmen trifft dies zu? Welche Maßnahmen haben sich besonders bewährt? Welche Motive sind für Kommunen bei der Auswahl des Maßnahmenangebots ausschlaggebend? Welche Rolle spielen unterschiedliche Formen der Organisation der Hilfe zur Arbeit für den Maßnahmenerfolg? Welchen Beitrag können die aktuell diskutierten Kombilohnmodelle zur Bewältigung der Probleme leisten?
Zur Beantwortung dieser Fragen hat das IWH unter anderem in 12 Kommunen und Landkreisen Sozialhilfeempfänger nach deren Erfahrungen mit der Teilnahme an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befragen lassen. Die Befragung wurde von Infratest Sozialforschung aus München durchgeführt. An dieser Stelle gebührt ein besonderer Dank unserem dortigen Ansprechpartner, Herrn Dr. Klaus Kortmann, der mit außerordentlicher Kompetenz und hohem persönlichen Engagement zum Gelingen der Befragung beigetragen hat.
Darüber hinaus wurden seitens des IWH in den ausgewählten Kommunen und Landkreisen zahlreiche Expertengespräche mit Vertretern von Sozialämtern, Maßnahmenträgern und Arbeitgebern durchgeführt. Die Gespräche haben eine unerwartete Vielfalt von Organisationsformen und Herangehensweisen zutage gefördert und maßgeblich zu unserem Problemverständnis beigetragen. Den beteiligten Interviewpartnern sei deshalb noch einmal ausdrücklich für die geopferte Zeit und die große Bereitschaft bei der Unterstützung des Forschungsvorhabens gedankt.