cover_wiwa_2022-01.jpg

Kommentar: Die Schuldenfinanzierung höherer Militärausgaben ist Augenwischerei

Die Bundesregierung will zusätzliche Militärausgaben in Höhe von 100 Mrd. Euro über ein „Sondervermögen“ finanzieren. Dies täuscht darüber hinweg, dass mehr Militärausgaben nicht ohne Einschränkungen an anderer Stelle, z. B. bei Investitionen für den Klimaschutz, zu haben sind. Eine Finanzierung über höhere Steuern wäre transparenter und würde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen berücksichtigen. 

11. April 2022

Autoren Oliver Holtemöller

Zwischen 1960 und 1990 beliefen sich die Militärausgaben in Westdeutschland laut Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) auf jährlich 3,3% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Seit 1990 ist diese Kennziffer deutlich zurückgegangen, der Durchschnitt von 1991 bis 2020 lag für das vereinte Deutschland bei 1,3%. Dass jährlich 2% des Bruttoinlandsprodukts nicht mehr für militärische Zwecke, sondern für andere Dinge ausgegeben werden konnten, wurde als Friedensdividende angesehen. Doch die geopolitische Lage hat sich mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dramatisch verändert. Russland betrachtet die militärische Eroberung von Gebieten außerhalb seiner Staatsgrenzen offenbar als legitim. Die Ausgaben für militärische Zwecke liegen in Russland bei über 4% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt und damit nur unwesentlich unter dem Wert der frühen 1990er Jahre. Dort hat man die Friedensdividende also niemals realisiert.

Die deutsche Bundesregierung hat angekündigt, auf die veränderte Lage durch eine massive Erhöhung der Ausgaben für militärische Zwecke auf 2% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zu reagieren. Was sind die ökonomischen Konsequenzen dieser Entscheidung? Die Bundesregierung strebt die Finanzierung über ein „Sondervermögen“, also zusätzliche Staatsschulden außerhalb des regulären jährlichen Staatshaushalts an. Diese Finanzierungsart beeinträchtigt – zusammen mit den übrigen „Sondervermögen“ – die Transparenz der Staatsfinanzen erheblich. Anscheinend soll darüber hinweggetäuscht werden, dass mehr Militärausgaben nicht ohne Einschränkungen an anderer Stelle zu haben sind. Politikerinnen und Politiker aus fast allen Lagern betonen, die Mehrausgaben für das Militär sollen nicht zulasten der anderen öffentlichen Ausgaben, etwa im Bereich der Dekarbonisierung oder im Sozialhaushalt gehen. Ist das realistisch? Nein. Selbst wenn der Bund die angekündigten 100 Mrd. Euro für das „Sondervermögen“ vollständig am privaten Kapitalmarkt aufnimmt, stehen diese Ressourcen unter realistischen Annahmen nicht mehr in gleichem Umfang für Investitionen, etwa in klimafreundliche Technologien, in privaten Unternehmen zur Verfügung.

Die Landesverteidigung ist ein öffentliches Gut und eine zentrale staatliche Aufgabe. Wenn die Bundesregierung zu der Auffassung gelangt, dass unter den veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen ein größerer Teil der Wirtschaftsleistung auf militärische Zwecke entfallen soll, dann sollte sie der Bevölkerung auch die reale Finanzierungslast in Form von Minderausgaben an anderer Stelle oder höheren Steuern zumuten. Die Steuerfinanzierung über das progressive Einkommensteuersystem hätte den Vor- teil, dass sich die Abgaben nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit richten. Die Schuldenfinanzierung in Zeiten einer mit Auslaufen der Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen sich ohnehin zügig normalisierenden gesamtwirtschaftlichen Auslastung dürfte hingegen Inflation und Zinsen steigen lassen. Das bedeutet tendenziell eine Umverteilung von unten nach oben, denn einkommensschwache Haushalte sind aufgrund ihrer niedrigeren Sparquote stärker von Preisanstiegen für die Ausgaben des täglichen Bedarfs betroffen, und von höheren Zinsen profitieren einkommensstarke Haushalte mit hoher Sparquote ebenfalls mehr. Gerade eine Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung sollte sich noch einmal überlegen, ob diese Verteilungswirkungen tatsächlich intendiert sind.

Die Originalfassung dieses Textes unter dem Titel „Politische Augenwischerei“ erschien am 22.03.2022 in der Fuldaer Zeitung.

Außerdem in diesem Heft

cover_wiwa_2022-01.jpg

Aktuelle Trends: Immobilienpreise in Deutschland steigen seit Pandemiebeginn im EU-Vergleich am stärksten

Michael Koetter Felix Noth

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2022

Abstract

Seit dem Beginn der Pandemie sind die Angebotspreise für privat genutzte Immobilien EU-weit um ein Viertel, in Deutschland bis März 2021 um 45% gestiegen. Die Preisdynamik ist auch außerhalb der Ballungszentren beachtlich.

Publikation lesen

cover_wiwa_2022-01.jpg

Die Ost-West-Produktivitätslücke: Die Rolle von Produktspezialisierung, Produktpreisunterschieden und physischer Produktivität

Matthias Mertens Steffen Müller

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2022

Abstract

Auch 30 Jahre nach der Deutschen Vereinigung erreicht die ostdeutsche Wirtschaft nur 82% der westdeutschen Arbeitsproduktivität. Dieser Unterschied in der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität steht in engem Zusammenhang mit vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen, denen Ostdeutschland heute gegenübersteht. Auf Basis differenzierter Daten zu den einzelnen Produkten, die Firmen im deutschen Verarbeitenden Gewerbe herstellen, untersuchen wir in diesem Beitrag, wie sich ost- und westdeutsche Firmen bezüglich Produktspezialisierung, Produktpreisen und technischer Effizienz unterscheiden. Wir zeigen auf, dass der Osten – entgegen der Hypothese der „verlängerten Werkbank“ – nicht aufgrund einer Spezialisierung auf Vorprodukte weniger produktiv als der Westen ist. Obwohl Ostprodukte zu deutlich geringeren Preisen verkauft werden, können auch Preisunterschiede zwischen Ost- und Westfirmen den Produktivitätsrückstand nicht erklären. Stattdessen sind Faktoren, welche die physische Produktivität (technische Effizienz) von Unternehmen beeinflussen, entscheidend, um den Produktivitätsrückstand auf Unternehmensebene zu erklären.

Publikation lesen

cover_wiwa_2022-01.jpg

Handelsschocks, Arbeitsmärkte und Wohlstand während der ersten Globalisierung

Richard Bräuer Wolf-Fabian Hungerland Felix Kersting

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2022

Abstract

Dieser Beitrag untersucht Deutschland in der ersten Globalisierung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Damals erlebte das Deutsche Reich eine massive Zunahme von Getreideimporten aus Amerika. Wir vergleichen Landkreise, die auf die importierten Getreidesorten spezialisiert waren, mit Kreisen, die andere landwirtschaftliche Güter hergestellt haben. Unsere Resultate zeigen, dass viele Arbeitskräfte die Kreise verlassen, in denen vom Handelsschock betroffene Produkte hergestellt wurden. Allerdings bleiben die in modernen Volkswirtschaften beobachteten negativen Effekte auf Einkommen pro Kopf und Sterblichkeit aus, auch eine politische Radikalisierung findet nicht statt. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Migrationsbewegungen negative wirtschaftliche und in der Folge auch politische Auswirkungen abfedern. Damals verließen etwa viermal so viele Einwohner ihren Landkreis nach einem Handelsschock wie in vergleichbaren Situationen in den heutigen USA.

Publikation lesen

Ihr Kontakt

Für Wissenschaftler/innen

Für Journalistinnen/en

Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft LogoTotal-Equality-LogoGefördert durch das BMWK