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Kommentar: Stadt, Land, Frust

Der Titel ist nüchtern, das Echo grell. „Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“ heißt die Publikation, die das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) heute vor einem Monat veröffentlicht hat. Wir analysieren darin die Entwicklungsunterschiede im heutigen Deutschland. Ob Wirtschaftsleistung oder Löhne, Zuwanderung oder Bildung: In vielerlei Hinsicht zeichnen die regionalen Muster beständig die einstige Teilung zwischen DDR und alter Bundesrepublik nach. Das zeigen wir sehr anschaulich und überlegen, wie sich die Unterschiede verkleinern ließen. Und die Reaktionen aus Teilen der Politik? Entrüstung, Diskreditierung von Forschung und Versuche, Wissenschaftler persönlich herabzusetzen.

25. April 2019

Autoren Reint E. Gropp

Ohne ihn irgendwie gutzuheißen, lässt sich der Furor einiger ostdeutscher Landespolitiker zumindest erklären – die Wahlen vor der Brust, im Nacken die AfD und im Rücken eine schmerzhafte Vergangenheit mit Arbeitsplatzverlusten, Abschwung, Abwanderung. Allerdings: Für Politik und für Wissenschaft gelten unterschiedliche Rollenbeschreibungen. Nur ergebnisoffene Forschung ist sinnvoll, gerade dann, wenn sie unbequem oder politisch nicht opportun zu sein scheint.

In Teilen der Debatte vermisse ich das nüchterne Wahrnehmen von Fakten und was aus ihnen folgt. Eine substanzielle Auseinandersetzung auch jenseits medialer Bühnen, auf denen Forschung bisweilen so weit verkürzt aufgeführt wird, bis nur noch Zankäpfel über die Bretter rollen, wäre besser. Darum noch mal: Was sind unsere Hauptpunkte?

Wir alle wussten, dass in puncto Produktivität ein West-Ost-Gefälle besteht. Weil generell die Produktivität mit der Betriebsgröße steigt und etwa 93% der größten deutschen Betriebe ihren Sitz im Westen haben, war klar, dass der Osten schlechter abschneidet. Neu ist Folgendes: Selbst wenn man unterschiedliche Betriebsmerkmale wie Branchenzugehörigkeit und Kapitalintensität berücksichtigt, haben ostdeutsche Firmen in jeder Größenklasse eine mindestens 20% niedrigere Produktivität. Wir denken, das liegt an den staatlichen Subventionen in den letzten 25 Jahren. Sind diese an die Bedingung geknüpft, Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen, dann steht das einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität im Weg, und damit auch höheren Löhnen. Angesichts des Fachkräftemangels sollte Wirtschaftsförderung deshalb nicht versuchen, um jeden Preis Arbeitsplätze zu erhalten. Vielmehr sollte man sich darum kümmern, dass bei den Einkommen Ostdeutschland nach 30 Jahren endlich mit dem Westen gleichzieht.

Was also ist zu tun? Wir beobachten weltweit den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und eine Migration vom Land in die Stadt. Wir denken, Ostdeutschland sollte sich an die Spitze dieser Veränderungen setzen. Urbane Räume ziehen kluge Köpfe an, die in heterogenen Teams neue Geschäftsideen umsetzen. Städte und ihr Umfeld sind zentrale Schauplätze für Forschung, Innovation und Wertschöpfung. Es lohnt sich, besonders in Ballungsräume zu investieren, in gute Infrastruktur, in schnelles Internet, in hochwertige Bildung und Wissenschaft, weil die Chance auf wirtschaftlichen Fortschritt dort am größten ist.

Die IWH-Untersuchung zeigt, dass sich die Produktivität zwischen den ost- und westdeutschen Städten stärker unterscheidet als zwischen den ländlichen Regionen. Deshalb empfehlen wir, darüber nachzudenken, wie sich gerade die ostdeutschen Ballungsräume stärken lassen. Also zum Beispiel Leipzig-Halle im Verbund mit Schkeuditz, Schkopau, Leuna und weiteren Orten. Mit einer guten Anbindung strahlt der wirtschaftliche Erfolg der Städte ins Land aus. Das bringt uns dem Ziel näher, das Wohlstandsgefälle zu Westdeutschland zu verkleinern. Und das wiederum könnte helfen, die Spannungen innerhalb der deutschen Gesellschaft abzubauen. Es geht nicht darum, den ländlichen Raum aufzugeben. Es geht um die richtigen Prioritäten. Wenn wir uns in der global vernetzten Welt auch in Zukunft behaupten wollen, sollten wir mehr Kraft für Städte aufwenden.  

Die Originalfassung dieses Textes erschien am 04.04.2019 in der Mitteldeutschen Zeitung.

Außerdem in diesem Heft

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Aktuelle Trends: Durchschnittsalter der Bevölkerung: Deutliches Ost-West-Gefälle

Hans-Ulrich Brautzsch

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2019

Abstract

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung[1] hat in Deutschland kontinuierlich zugenommen. In Ostdeutschland ist es zwischen Ende 1990 und Ende 2017 von 37,9 auf 46,3 Jahre gestiegen.[2] In Westdeutschland nahm das Durchschnittsalter von 39,6 auf 44,1 Jahre zu. Die Zunahme des Durchschnittsalters war damit in Westdeutschland mit 4,5 Jahren nur etwa halb so hoch wie in Ostdeutschland (8,4 Jahre). Beeinflusst wurde diese Entwicklung in Ostdeutschland durch das hohe Geburtendefizit sowie die Wanderungsverluste.

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Zu den Effekten eines beschleunigten Braunkohleausstiegs auf Beschäftigung und regionale Arbeitnehmerentgelte

Oliver Holtemöller Christoph Schult

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2019

Abstract

Ohne weitere staatliche Maßnahmen können die Klimaschutzziele der Bundesregierung nicht erreicht werden. Eine Möglichkeit, Emissionen zu reduzieren, ist der Ausstieg aus der Braunkohleverbrennung. Die Braunkohlenwirtschaft zahlt allerdings doppelt so hohe Löhne im Vergleich zum durchschnittlichen Lohnniveau. Der Braunkohleausstieg wird voraussichtlich Einkommenseinbußen und Abwanderung aus den Braunkohleregionen mit sich bringen.

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Gute Absicht – böses Ende: Die US-Wohnungspolitik als Brandbeschleuniger der Weltfinanzkrise

Reint E. Gropp Vahid Saadi

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2019

Abstract

Der Boom auf dem US-amerikanischen Eigenheimmarkt in den frühen 2000er Jahren führte zur schwersten Finanzkrise der vergangenen Jahrzehnte. Wissenschaftler haben unterschiedliche Faktoren dokumentiert, die zum rasanten Anstieg der Immobilienpreise beigetragen haben. Kaum beleuchtet wurde bisher die Rolle der US-Wohnungspolitik, insbesondere die Förderung des privaten Wohneigentums durch den Community Reinvestment Act (CRA). Der vorliegende Beitrag untersucht die Geschichte dieses Bundesgesetzes und seine Auswirkungen auf den Markt für Hypotheken und Wohneigentum seit den späten 1990er Jahren. Infolge des CRA wurden seit 1998 deutlich mehr Hypotheken aufgenommen. Der Anstieg der Immobilienpreise in der Boomphase beruhte zum Teil auf diesem politisch induzierten Anstieg der Hypothekenvergabe. Der CRA ermöglichte es auch Kreditnehmern mit geringerer Kreditwürdigkeit, eine Hypothek aufzunehmen – in der Folge kam es zu vermehrten Zahlungsausfällen. Der CRA hat also zum Boom-Bust-Zyklus auf dem amerikanischen Immobilienmarkt beigetragen. Er kann als Beispiel einer wohlmeinenden Politik gelten, die unbeabsichtigt wohlfahrtsmindernde Wirkungen zeitigt.

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