Protest! Die Rolle kultureller Prägung im Volkswagenskandal
Die Aufdeckung manipulierter Abgaswerte bei Dieselautos des Herstellers Volkswagen (VW) durch die amerikanischen Behörden im Jahr 2015 brachte einen der größten Unternehmensskandale Deutschlands zutage. Dieser Skandal blieb nicht ohne Konsequenzen. Martin Winterkorn trat von seinem Amt als Vorstandsvorsitzender und Michael Horn als Chef von Volkswagen in den USA zurück. Viele VW-Kunden klagten gegen den Konzern, und in deutschen Großstädten wurde über Dieselfahrverbote diskutiert. Doch gab es auch eine Reaktion auf Konsumentenseite, also seitens der Autokäufer? Und wenn ja, spielen hier gesellschaftskulturelle Unterschiede wie zum Beispiel religiöse Prägung eine Rolle? Diesen Fragen geht ein im letzten Jahr erschienenes Arbeitspapier des IWH nach. Die empirische Analyse beschäftigt sich mit der Frage, ob Konsumenten nach dem VW-Skandal ihr Kaufverhalten stärker anpassen, wenn das gesellschaftliche Umfeld protestantisch geprägt ist. In der wissenschaftlichen Literatur zeigt sich, dass Protestanten mehr Wert auf eine Überwachung und Durchsetzung von Regeln legen, weshalb die Autoren von dieser Religionsgruppe eine ausgeprägtere Reaktion auf den VW-Skandal erwarten. Das Hauptergebnis der Studie legt dann genau diesen Schluss nahe: In den deutschen Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung dem protestantischen Glauben angehört, kam es zu signifikant höheren Rückgängen bei VW-Neuzulassungen infolge des VW-Skandals. Der Effekt ist umso stärker, je länger die Region durch protestantische Werte geprägt ist. Offenbar können bestimmte gesellschaftskulturelle Ausprägungen wie Religion und deren Normen ein Korrektiv für Verfehlungen von Unternehmen darstellen und somit verzögerte oder ausbleibende Maßnahmen von Politikern und Regulierern zum Teil ersetzen.
03. Dezember 2020
Die Rolle von Kultur
Religionen prägen seit Jahrhunderten das Wertesystem von Gesellschaften. Dabei lassen sich aber durchaus Unterschiede im Wertekanon zwischen den Religionen und daraus resultierende Effekte für gesellschaftliche Entwicklungen feststellen. So untersucht ein aktueller Teil der ökonomischen Literatur Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken und geht der Frage nach, ob und wie sich diese Unterschiede in ökonomischen Kennzahlen wie wirtschaftlichem Wachstum, Verschuldung oder Innovationen niederschlagen. Die empirischen Befunde dieses Literaturstrangs legen nahe, dass Regionen, die stärker protestantisch geprägt sind, deutlich stärker wachsende Ökonomien aufweisen,1 wobei der Effekt meist auf einen besseren Zugang zu Bildung in diesen Regionen zurückzuführen ist.2 Ein anderer markanter Unterschied, den die Literatur in den letzten Jahren herausgearbeitet hat, ist der, dass, aufbauend auf der von Max Weber beschriebenen protestantischen Arbeitsmoral, Protestanten mehr Wert auf Eigenständigkeit, soziale Normen und die Durchsetzung von Regeln legen,3 was zu negativen Reaktionen bei dieser Religionsgruppe im Falle von Normenverletzung führen kann.4
Der VW-Skandal und die protestantische Reaktion
Der VW-Skandal im Jahr 2015 kann als eine solche Normenverletzung angesehen werden. VW hatte über Jahre in seinen Dieselautos eine Software verbaut, die im Testbetrieb die Abgaswerte so manipulierte, dass diese den Normen entsprachen. Allerdings emittierten diese Autos im normalen Straßenverkehr deutlich mehr Abgase.5 Die Folgen des Skandals sind weitgehend bekannt. Viele Spitzenmanager des Konzerns mussten zurücktreten, und VW sah sich einer lang anhaltenden Klagewelle von VW-Kunden gegenüber.
Auch aus politischer Sicht ist der VW-Skandal interessant, da das Bundesland Niedersachsen mit seinem Anteil von 20,2% eine Sperrminorität bei allen wichtigen Entscheidungen besitzt und der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen einen Sitz im Aufsichtsrat hat. Im Wissen um diese starke politische Verknüpfung scheint es nicht verwunderlich, dass bisher eine deutliche Reaktion der Politik gegenüber dem Konzern selbst, aber auch im Hinblick auf Dieselfahrzeuge ausgeblieben ist.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Verbraucher auf diesen Skandal reagieren und durch ihr Handeln zu einem Korrektiv werden können, das ausbleibende Politikmaßnahmen (teilweise) ersetzen kann.
Dieser Frage widmet sich ein jüngst am IWH erschienenes Arbeitspapier,6 welches, basierend auf den in der Literatur dargestellten Unterschieden zwischen katholisch und protestantisch geprägten Gesellschaften die Hypothese testet, ob die Konsumentenreaktion in Folge des VW-Skandals in protestantischen Regionen deutlich stärker ausfallen sollte.
In ihrer Untersuchung verwenden die Autoren zwei primäre Datenquellen. Zum einen nutzen sie Daten über die Religionszugehörigkeit auf Landkreisebene aus dem Zensus des Statistischen Bundesamtes. Anhand dieser Daten lassen sich Regionen (deutsche Kreise) identifizieren, in denen die Mehrheit der Bevölkerung protestantisch ist. In der Abbildung sind die Kreise mit einer protestantischen Mehrheit dunkel eingefärbt. Die andere Datenquelle ist das Kraftfahrt-Bundesamt, das pro Monat und Kreis Daten zu Neuzulassungen erhebt. Diese Daten umfassen jedes zugelassene Fahrzeug mit Angabe des Herstellers und des eingebauten Antriebs (Benziner, Diesel, Elektro etc.). Anhand dieser Daten lässt sich pro Kreis und Monat der Anteil von Neuzulassungen bestimmen, die VW betreffen. In den zweieinhalb Jahren vor dem Bekanntwerden des Skandals wurden in jedem Kreis pro Monat circa 250 VW-Fahrzeuge neu zugelassen. Im Schnitt hatte VW damit einen Marktanteil von 38%. Der empirische Test erfolgt im Rahmen einer Differenz-in-Differenzen-Methode, in der die Anteile von VW-Neuzulassungen zwischen protestantischen und nicht protestantischen Kreisen vor und nach dem Jahr 2015 verglichen werden.
VW-Neuzulassungen gehen in protestantischen Kreisen signifikant zurück
Das Hauptergebnis der Studie zeigt, dass VW-Neuzulassungen in Kreisen mit einer protestantischen Mehrheit als Folge des VW-Skandals statistisch signifikant um circa 0,8 Prozentpunkte stärker zurückgehen als in Kreisen ohne protestantische Mehrheit. Da der Anteil von VW an allen Neuzulassungen in Deutschland vor 2015 bei 38% lag, bedeutet dies einen relativen Rückgang des Anteils von VW am deutschen Markt um 2,1% (=0,8/38*100), welcher auf die Reaktion der protestantischen Bevölkerung auf den VW-Skandal zurückzuführen ist. Nimmt man die Anzahl an VW-Neuzulassungen, kommt man auf einen relativen Rückgang von 1%. Rechnet man das in die Anzahl an Fahrzeugen um, ergibt sich pro Kreis im Schnitt ein Rückgang um 2,5 Fahrzeuge. Bezogen auf die circa 400 Kreise und kreisfreien Städte wurden in den zweieinhalb Jahren nach Bekanntwerden des Skandals circa 1 000 VW-Fahrzeuge – durch die protestantische Reaktion – weniger zugelassen. Geht man sehr konservativ von einem durchschnittlichen Preis von 35 000 Euro für VW-Fahrzeuge und die dazugehörigen anderen Marken wie Audi aus,7 bedeutet das einen Umsatzverlust von circa 35 Mio. Euro.
Um den Einfluss der protestantischen Prägung noch mehr zu verdeutlichen, unternehmen die Autoren einen weiteren Test. Sie messen den Einfluss der Dauer der Prägung auf den jeweiligen Kreis unter Verwendung der Verteilung von protestantischen Mehrheiten aus dem Jahr 1624. In ihren Analysen können sie unter Berücksichtigung dieser Information zeigen, dass der relative Rückgang von VW-Neuzulassungen vor allem in den protestantischen Kreisen nachzuweisen ist, die schon im Jahr 1624 protestantisch waren. Der gleiche Effekt findet sich auch in einem alternativen Test, in dem der Einfluss der räumlichen Nähe deutscher Kreise zu wichtigen protestantischen Kirchen (wie dem Ulmer Münster oder dem Halleschen Dom) untersucht wird. Auch hier zeigt sich: Liegt der protestantisch geprägte Kreis in der Nähe eines wichtigen protestantischen Bauwerks, fällt die Reaktion in diesen Kreisen im Hinblick auf VW-Neuzulassungen stärker negativ aus.
Fazit: Gesellschaftliche Korrektive durch religiöse Prägungen
Aktuelle Beiträge, wie zum Beispiel solche des ehemaligen Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds Raghuram Rajan,8 werfen die Frage auf, ob der Verlust gesellschaftlicher Bindungen negative Konsequenzen für Ökonomien und Gesellschaften haben kann. Religiöse Prägungen sind ein Faktor, der als Bindeglied in Gesellschaften fungieren und gewisse Normen für das Zusammenleben vorgeben kann. Vor diesem Hintergrund legen die Ergebnisse der hier beschriebenen Studie nahe, gesellschaftliche Merkmalewie eine starke Normenkontrolle und Durchsetzungswillen (die typischerweise protestantischen Religionsanhängern zugeschrieben werden) zu stärken, um ein gesellschaftliches Korrektiv für Verfehlungen von ökonomischen Markteilnehmenden aufzubauen.
Endnoten
1 Vgl. zum Beispiel Cantoni, D.: The Economic Effects of the Protestant Reformation: Testing the Weber Hypothesis in the German Lands, in: Journal of the European Economic Association, Vol. 13 (4), 2015, 561–598.
2 A Human Capital Theory of Protestant Economic History, in: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 124 (2), 2009, 531–596, oder Becker, S. O.; Woessmann, L.: The Effect of Protestantism on Education Before the Industrialization: Evidence from 1816 Prussia, in: Economics Letters, Vol. 107 (2), 2010, 224–228.
3 Vgl. zum Beispiel Basten, C.; Betz, F.: Beyond Work Ethic: Religion, Individual, and Political Preferences, in: American Economic Journal: Economic Policy, Vol. 5 (3), 2013, 67–91; Arruñada, B.: Protestants and Catholics: Similar Work Ethic, Different Social Ethic, in: The Economic Journal, Vol. 120 (547), 2010, 890–918; Benjamin, D. J.; Choi, J. J.; Fisher, G.: Religious Identity and Economic Behavior, in: The Review of Economics and Statistics, Vol. 98 (4), 2016, 617–637.
4 Hong, H.; Kacperczyk, M.: The Price of Sin: The Effects of Social Norms on Markets, in: Journal of Financial Economics, Vol. 93 (1), 2009, 15–36.
5 Einen guten Überblick über die Aufdeckung des Skandals durch die amerikanischen Behörden und die Reaktion von VW gibt die erste Folge der ersten Staffel der Serie Dirty Money – Geld regiert die Welt auf netflix.com.
6 Hasan, I.; Noth, F.; Tonzer, L.: Cultural Norms and Corporate Fraud: Evidence from the Volkswagen Scandal. IWH Discussion Papers 24/2020.
7 Vgl. Viehmann, S.: Preis-Wahnsinn: Die Kosten für einen Neuwagen sind seit 1980 explodiert, Focus Online, 16.11.2015.
8 Vgl. Rajan, R.: The Third Pillar: The Revival of Community in a Polarised World. HarperCollins UK, Glasgow 2019.