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Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall
Die Berliner Mauer als das Symbol der deutschen Teilung ist mittlerweile länger verschwunden als sie gestanden hat, doch die Unterschiede innerhalb des Landes sind auch nach drei Jahrzehnten noch sichtbar. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass die Bruchkante der wirtschaftlichen Entwicklung nicht immer ausschließlich entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze verläuft, sondern neben dem West-Ost-Gefälle auch Süd-Nord- oder Stadt-Land-Unterschiede zutage treten.
04. März 2019
Die Berliner Mauer als Inbegriff der deutschen Teilung ist inzwischen schon länger wieder verschwunden als sie existiert hat. Im Jahr 2019 vollendet sich das dritte Jahrzehnt ohne diese Grenze. Die Euphorie von Mauerfall und Wiedervereinigung war rasch der Ernüchterung gewichen. Die Menschen im Osten Deutschlands erlebten den Zusammenbruch der Wirtschaftsstrukturen und den millionenfachen Verlust von Arbeitsplätzen. Die Verantwortlichen in der Politik standen vor der Herausforderung, ein rasches Zusammenwachsen des Landes zu befördern, ohne die gesamtwirtschaftliche Stabilität des vereinten Deutschlands und seine Rolle als verlässlicher Partner in Europa und der Welt zu gefährden. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage nahe, wie Deutschland, das knapp ein Jahr nach dem Mauerfall auch seine staatliche Wiedervereinigung vollzog, nach drei Jahrzehnten aussieht. Dieser Frage geht die vorliegende Veröffentlichung nach. Sie präsentiert Untersuchungsergebnisse zur wirtschaftlichen Situation und Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland. Zunächst wird die wirtschaftliche Position Deutschlands im internationalen Vergleich beleuchtet. Anschließend wird der Blick auf die räumlichen Unterschiede innerhalb Deutschlands gerichtet, wie sie sich im dritten Jahrzehnt nach dem Mauerfall darstellen.
Wie hat sich die wirtschaftliche Position Deutschlands im internationalen Vergleich seit der Wiedervereinigung verändert? Anfang der 1990er Jahre war das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner (gemessen in Kaufkraftparitäten) in Deutschland in etwa so hoch wie im Schnitt aller großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften (G7-Gruppe), und nur der Wert für die USA, das mit Abstand wohlhabendste Land der Gruppe, lag über dem von Deutschland. Danach wuchs aber das deutsche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner längere Zeit deutlich langsamer als im Schnitt dieser Ländergruppe. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Schließlich waren damals die Wachstumsraten der ostdeutschen Wirtschaft im Zuge des Konvergenzprozesses sogar recht hoch. Jedoch brachte die Vereinigung Belastungen mit sich, die das Trendwachstum in Deutschland dämpften. So beanspruchte der öffentliche Sektor einen deutlich größeren Anteil am Produktionspotenzial: Lag die staatliche Einnahmenquote relativ zum Bruttoinlandsprodukt in Westdeutschland vor der Vereinigung bei 43%, stieg sie im vereinigten Deutschland bis Mitte der 1990er Jahre auf 48%. Zudem ging die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland in den Jahren nach der Vereinigung deutlich zurück. Ursachen waren die Aufwertung der D-Mark (nominal effektiv um 17% zwischen 1989 und 1995) und der Anstieg des inländischen Preisniveaus im Vereinigungsboom. Aber auch die zur D-Mark-Einführung in Ostdeutschland erfolgte Umstellung der Löhne im Verhältnis von 1 zu 1 und die anschließenden, hohen Lohnzuwächse mussten die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland verringern.
Auffallend ist, dass der Offenheitsgrad der deutschen Wirtschaft, also das Verhältnis der Summe aus Exporten und Importen zum Bruttoinlandsprodukt, in den Jahren nach der Vereinigung deutlich zurückging. Auch diese Beobachtung ist nicht selbstverständlich. Schließlich hätten der durch die Vereinigung ausgelöste Nachfrageschub und die geringere Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auch zu steigenden Importen führen können. Die Einfuhren expandierten aber in der ersten Hälfte der 1990er Jahre verhalten, und die ostdeutsche Nachfrage wurde vor allem aus Westdeutschland befriedigt. Für die westdeutschen Unternehmen gewann der eigene Binnenmarkt an Bedeutung, während die Ausfuhren erst einmal deutlich zurückgingen. Der Leistungsbilanzsaldo drehte abrupt ins Negative.
Die deutsche Wirtschaft hat aber ihre Schwächephase Mitte des vergangenen Jahrzehnts überwunden, und seitdem legt die Produktion je Einwohner im Trend mindestens so schnell zu wie im Schnitt der G7-Staaten. Diese Wende wird häufig mit den Arbeitsmarktreformen der Jahre 2003 bis 2005 erklärt. Was die deutsche Wirtschaft aber vor allem gestärkt hat, waren Exporterfolge, die sich schon Ende der 1990er Jahre einzustellen begannen. Vielen Unternehmen gelang es, durch Auslagerung unproduktiverer Wertschöpfungsstufen ins Ausland ihre Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Zudem profitieren die für Deutschland wichtigen Investitionsgüterproduzenten in besonderem Maß von der Nachfrage rasch wachsender Schwellenländer, zumal Chinas, nach diesen Gütergruppen. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat also letzten Endes die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft besonders begünstigt, und heute ist ihr Offenheitsgrad gemessen an der Größe des Landes ausgesprochen hoch.
Sind die 30 Jahre vereinigtes Deutschland aus internationaler Perspektive eine Erfolgsgeschichte? Hier kommt es auf den Maßstab an: Die deutsche Volkswirtschaft konnte ihre Position innerhalb der Gruppe der großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften letztlich behaupten, der Abstand zu den USA ist aber noch größer geworden. Dass der Produktivitätsfortschritt in den USA schneller ist, dürfte zu einem erheblichen Teil auf die Stärke der US-amerikanischen Digitalwirtschaft zurückgehen. Die digitale Wirtschaft begann sich ja in weiten Teilen erst nach der Deutschen Einheit zu entfalten: Um 1990 wurde in Deutschland das „Handy“ zu einem Wort der Umgangssprache, und in jenem Jahr hat die US-amerikanische National Science Foundation das Internet über Universitäten hinaus öffentlich zugänglich gemacht. Bis heute vollzieht sich der technische Fortschritt im IT-Bereich vor allem in den USA, und die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt hatten im Jahr 2017 ein digitales Geschäftsmodell und ihren Sitz in den Vereinigten Staaten. Der Rückstand in der Digitalwirtschaft wird schwer aufzuholen sein. Es ist aber allgemein darüber nachzudenken, warum die Bedingungen für die Entwicklung neuer Technologien in den USA anscheinend günstiger waren und sind als hierzulande und wie sich das ändern ließe. Dabei sollte auch bedacht werden, dass der ungewöhnlich hohe Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands nicht nur auf eine hohe Wettbewerbsfähigkeit zurückgeht, sondern auch ein Zeichen für Vorbehalte der Anleger gegenüber dem Investitionsstandort Deutschland ist.
Nachdem die internationale wirtschaftliche Position Deutschlands erörtert wurde, wird nunmehr der Blick auf die wirtschaftliche Situation im wiedervereinigten Land gerichtet. Ökonomisch gesehen handelte es sich beim Fall der Berliner Mauer und bei der Herstellung der Deutschen Einheit um ein Beispiel wirtschaftlicher Integration. Nach der Grenzöffnung konnten die Menschen im Osten Deutschlands ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen. Mit der Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Mitte 1990 wurde Ostdeutschland Teil eines europäischen Integrationsraums ohne Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit der Produktionsfaktoren. Es wurde erwartet, dass sich die großen räumlichen Entwicklungsunterschiede innerhalb Deutschlands nach und nach verringern würden. Das West-Ost-Gefälle dominierte damals die Wahrnehmung über die räumlichen Disparitäten in Deutschland. Dies war nicht verwunderlich. Denn vier Jahrzehnte deutscher Teilung hatten ihre Spuren hinterlassen.
Deutsche Wirtschaft hat vereinigungsbedingte Schwächephase überwunden
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Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Kaufkraftparitäten (US-Dollar im Jahr 2011)
Offenheitsgrad der deutschen Volkswirtschaft
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(Exporte + Importe)/Bruttoinlandsprodukt in %
Leistungsbilanzsaldo
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Relativ zum Bruttoinlandsprodukt in %
Produktivitätsunterschiede in Deutschland vom West-Ost-Gefälle geprägt
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Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen je Erwerbstätigen
In Ostdeutschland arbeiten weniger Beschäftigte in Großbetrieben
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Beschäftigtenanteile nach Größenklassen
Ost-West-Unterschiede bei der Produktivität in Betrieben aller Größenklassen
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Ost-West-Lücke in der Arbeitsproduktivität (Bruttowertschöpfung je Beschäftigten) nach Größenklassen in % (multivariate Schätzung)
Kaum Konzernzentralen im Osten Deutschlands
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Unternehmenssitze der TOP 500 Unternehmen 2016 laut Ranking von DIE WELT
Ost-West-Produktivitätsunterschiede sind in ländlichen Räumen kleiner als in städtischen
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Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen je Erwerbstätigen im städtischen und im ländlichen Raum in Ostdeutschland mit Berlin, Westdeutschland = 100
Wirtschaftsleistung je Einwohner in deutschen Regionen im Vergleich europäischer Regionen
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Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Kaufkraftstandards (KKS) je Einwohner 2016
Wirtschaftskraft in Ostdeutschland höher als in den Visegrád-Ländern
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Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Kaufkraftparitäten relativ zu Gesamtdeutschland in %
Regionale Einkommensungleichheit Deutschlands im Vergleich zu anderen EU-Regionen gesunken
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Logarithmierte Varianz des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner, in Kaufkraftstandards
Nur in 11 von 26 Jahren weist der Osten eine günstigere Entwicklung der Wirtschaftskraft auf als der Westen
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Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr, preisbereinigt, verkettet, in %
Medianlohn: Deutliches Ost-West-Gefälle bei den Löhnen
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Median der monatlichen Bruttoarbeitsentgelte von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten; Deutschland = 100, 31.12.2017
Dienstleistungen als wichtigster Wertschöpfungs- und Beschäftigungsbringer
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Absolute Veränderung der Bruttowertschöpfung in jeweiligen Preisen und der Erwerbstätigenzahl nach Wirtschaftsbereichen
Unterbeschäftigungsquoten: Große regionale Differenzierung
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Unterbeschäftigungsquote 2017 nach Kreisen, Deutschland = 100
Kapitalmangel nicht wesentlich für Produktivitätsrückstand Ostdeutschlands
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Bruttoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen; Ostdeutschland relativ zu Westdeutschland, in %
Von der Regionalförderung haben in Ostdeutschland ländliche Regionen überdurchschnittlich profitiert – aber die Zeit der großzügigen Subventionierung ist vorüber
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Bewilligte Zuschüsse für Betriebsstätten der gewerblichen Wirtschaft von 1991 bis 2017
Von der Regionalförderung haben in Ostdeutschland ländliche Regionen überdurchschnittlich profitiert – aber die Zeit der großzügigen Subventionierung ist vorüber
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Bewilligte Zuschüsse für Betriebsstätten der gewerblichen Wirtschaft von 1991 bis 2017
Ost-West-Wanderung: Nettoabwanderung kommt zum Stillstand
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Fortzüge aus Ostdeutschland nach Westdeutschland, Zuzüge von Westdeutschland nach Ostdeutschland, Netto-Wanderungssaldo, von 1989 bis 2015
Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland: Ab 2013 Zunahme durch Wanderungsgewinne mit dem Ausland
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Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland von 1990 bis 2015 und ihre Komponenten, Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Personen
Binnenwanderung: Ländlicher Raum in Ostdeutschland hat seit 1999 ununterbrochen Einwohner verloren
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Binnenwanderungssaldo insgesamt je 1 000 Einwohner
Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern bis 2060 mehr als doppelt so groß im Vergleich zu den westdeutschen
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Index der Entwicklung der Zahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter (20 bis unter 67 Jahre) laut aktualisierter 13. koordinierter Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts, 2015 =100
Wanderungsgewinne aus EU: In Ostdeutschland deutlich geringer als in Westdeutschland
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Kumulierte Wanderungsgewinne je 1 000 Einwohner, Deutschland =100
Blaue Karte EU: Berlin mit großem Abstand an der Spitze
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Personen mit Blauer Karte EU je 100 000 Erwerbstätige in den Bundesländern im Jahr 2017
Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland und in ländlichen Regionen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt
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Anteile der Einwohner ohne Migrationshintergrund und mit Migrationshintergrund im Jahr 2017, in % (Bevölkerung insgesamt = 100)
Anteil der Schutzsuchenden an Ausländern: Weit überdurchschnittlicher Anteil bei geringerem Ausländeranteil in ostdeutschen Flächenländern
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31.12.2016
Unbesetzte Fachkräftestellen: zunehmend ein Problem in ost- und westdeutschen Betrieben
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Nichtbesetzungsquote, 2007 bis 2017, in %
Teilzeitbeschäftigung: Anteil Teilzeitbeschäftigter in Ostdeutschland geringer
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Teilzeitbeschäftigung und Teilzeitquoten, 1997 bis 2017, absolut und prozentual
Ostdeutsche Flächenländer fallen bei tertiären Bildungsabschlüssen zurück
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Anteile der Beschäftigten in den Bundesländern nach Bildungsabschluss in %, gerankt nach dem Beschäftigtenanteil mit tertiären Bildungsabschlüssen
Ostdeutsche Flächenländer fallen bei tertiären Bildungsabschlüssen zurück
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Anteile der Beschäftigten in den Bundesländern nach Bildungsabschluss in %, gerankt nach dem Beschäftigtenanteil mit tertiären Bildungsabschlüssen
Große regionale Spannbreite bei Schulabbrechern
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Schulabbrecher: Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss an den Schulabgängern im Jahr 2016, in %, Deutschland = 100
In Ostdeutschland und in strukturschwachen westdeutschen Ländern tragen KMU überdurchschnittlich zu den Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen in der Wirtschaft bei
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Interne FuE-Aufwendungen in der Wirtschaft nach Beschäftigtengrößenklassen 2015, in % (Ausgaben insgesamt je Land/Region = 100)
Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen und Bayern geben überdurchschnittlich viel für Forschung und Entwicklung aus
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Anteil der internen Ausgaben für Forschung und Entwicklung 2016 am Bruttoinlandsprodukt nach Bundesländern und Regionen, jeweilige Preise, in %
Exzellenzcluster: Ostdeutsche Flächenländer mit Ausnahme Sachsens in der Spitzenforschung unterrepräsentiert
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Anteil der Bundesländer an den 57 zur Förderung ausgewählten Spitzenclustern deutscher Hochschulen im Vergleich zum Anteil an der Einwohnerzahl Deutschlands, in %
In der Industrie geht eine unterdurchschnittliche Betriebsgröße tendenziell mit geringeren Exportquoten einher
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Tätige Personen je Betrieb, Anteile des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz, 2017, Betriebe von Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes sowie des Bergbaus und der Gewinnung von Steinen und Erden mit 20 und mehr tätigen Personen
Ostdeutschlands Transferabhängigkeit ist gesunken, sie besteht aber fort
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Differenz zwischen Verwendung und Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland (mit Berlin), absolut und relativ zum westdeutschen Bruttoinlandsprodukt
Steuerdeckungsquote 2017: Nach wie vor West-Ost-Gefälle
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Steuereinnahmen in Relation zu den bereinigten Ausgaben, in %
Nicht alle Kommunen antizipieren den demographischen Wandel bei ihren Investitionsentscheidungen
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Verteilung der kommunalen Sachinvestitionen je Einwohner in Euro für die Jahre 2013 und 2014