Gibt es aktuell eine Insolvenzwelle in Deutschland?
Interviews Insolvenzen
Herr Professor Müller, erleben wir derzeit eine Insolvenzwelle in Deutschland?
Steffen Müller: Wir erleben derzeit ein spürbar höheres Insolvenzgeschehen, aber ich würde noch nicht von einer Insolvenzwelle sprechen. Die Zahl der insolventen Personen- und Kapitalgesellschaften liegt im ersten Halbjahr etwa ein Drittel über dem Niveau von 2023 und etwa ein Viertel über dem Niveau der Jahre vor der Pandemie. Allerdings muss man auch sagen, dass die Insolvenzzahlen vor 20 Jahren schon einmal deutlich höher lagen. Wir können also derzeit nicht von einer Insolvenzwelle sprechen.
Und dennoch wirkt es derzeit so, als wäre das Thema Insolvenzen prominenter auf der Tagesordnung.
Ja. Das liegt sicherlich einerseits daran, dass es einige Großinsolvenzen bekannter Unternehmen gab, mit denen man auch als Endverbraucher im Kontakt stand. Denken Sie an den Reiseveranstalter FTI, den Modehändler Esprit, den Weltbild-Verlag und das Unternehmen Jokers. Auch der größte Insolvenzfall der Vergangenheit, das Unternehmen Galeria Kaufhof, das zum wiederholten Male in die Insolvenz ging und nun erneut gerettet wurde, ist vielen Menschen bekannt. Der Anstieg bei den Großinsolvenzen ist nicht nur „gefühlt“. Im ersten Halbjahr waren etwa 100.000 Beschäftigte in Personen- und Kapitalgesellschaften betroffen – das ist eine hohe Zahl, die beinahe die Werte im Rekordjahr 2009 nach der Finanzkrise erreicht. Damals war die Zahl enorm hoch: Im Gesamtjahr waren 250.000 Beschäftigte betroffen.
Blicken wir etwas voraus: Welche weitere Entwicklung erwarten Sie?
Schauen wir uns dazu den Zeitverlauf an: Im Herbst 2021 hatten wir noch einen historischen Tiefststand der Unternehmensinsolvenzen. Seitdem steigen die Insolvenzen – mit einzelnen Unterbrechungen – wieder an. Besonders stark war der Anstieg im Frühjahr dieses Jahres. Den höchsten Wert haben wir im April verzeichnen müssen – dort war die Zahl der insolventen Personen- und Kapitalgesellschaften so hoch wie seit fast zehn Jahren nicht mehr.
Moment: Während der Corona-Pandemie gab es niedrigere Insolvenzzahlen als jetzt?
Ja, tatsächlich sind die Insolvenzzahlen während der Covid-Pandemie paradoxerweise in den Keller gegangen, obwohl unzählige Unternehmen wirtschaftliche Schwierigkeiten hatten. Das lag zwar auch an der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für einige Monate. Der Hauptgrund für die niedrigen Zahlen in der Pandemie war aber die staatliche Unterstützung, das waren Zuschüsse und Kredite, vor allem auch das Kurzarbeitergeld, das viele Unternehmen am Leben erhalten hat, obwohl sie möglicherweise bereits vor der Pandemie angeschlagen waren. Studien zeigen, dass die Finanzhilfen in der Pandemie vor allem an schwache Unternehmen gegangen sind, und diese schwachen Unternehmen sind natürlich in der derzeitigen konjunkturellen Lage nochmals unter besonderem Druck. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Insolvenzzahlen derzeit sehr hoch sind.
Zählen diese wirtschaftlichen Spätfolgen von Covid alleine als Ursachen für den Anstieg jetzt?
Nein. Es gibt auch einige weitere Faktoren. Aktuell haben Unternehmen mit steigenden Kosten für Löhne und Energie sowie mit steigenden Kreditzinsen zu kämpfen. Gerade angeschlagene Unternehmen sind oft auf Kredite angewiesen, und hier spielen diese Kosten eine große Rolle. Weiterhin gibt es aktuell einen Strukturwandel in mehreren Branchen ‒ beispielsweise in der Automobilbranche ‒, der viele Zulieferer trifft.
Welche Erwartungen haben Sie, wie sich diese Faktoren entwickeln?
Die konjunkturelle Situation in Deutschland ist schwierig. Allerdings geht das IWH in seiner Prognose von einem Wachstum in den kommenden Monaten aus. Würden außerdem die Leitzinsen der EZB gesenkt, sinken auch die Kosten für Kredite, und verschuldete Unternehmen bekommen etwas mehr Luft. Ob und wann hier weiter gesenkt wird, muss man abwarten.
Für den Fall, dass sich die Lage weiter ungünstig entwickelt: Welche Bereiche sind besonders bedroht?
Unsere Studien zeigen, dass vor allem junge Unternehmen einem hohen Risiko unterliegen. Denn hier ist das Geschäftsmodell oft noch nicht stabil. Hinsichtlich der Branchen ist im Grunde die gesamte Breite der Wirtschaft betroffen. Die Bau- und Immobilienbranche scheint noch etwas stärker betroffen zu sein – dieser Bereich blickt aber auf einige sehr gute Jahre zurück.
Welche Chancen haben Unternehmen mit Schwierigkeiten, die in eine Insolvenz schlittern?
Insolvenz bedeutet in der Regel die Schließung des Unternehmens. Manchmal können Unternehmen durch Verkauf oder Sanierung zumindest in Teilen erhalten werden. Das gelingt aber meist nur bei größeren Unternehmen. Große Unternehmen durchlaufen oft längere Sanierungs- und Restrukturierungsphasen, bevor es in eine Insolvenz geht. Kleine Unternehmen verschwinden eher kurzfristig und sang- und klanglos. Man kann davon ausgehen, dass weniger als zehn Prozent der Unternehmen eine Insolvenz zumindest für einige Jahre überleben und dass dies eher größeren Unternehmen gelingt. Für kleinere Unternehmen bedeutet die Insolvenz in der Regel das Aus.
Das klingt hart.
Ja, für die direkt betroffenen Unternehmer, Beschäftigten und Gläubiger ist das oft sehr hart. Als Wirtschaftswissenschaftler weiß ich aber, dass manche Geschäftsmodelle nicht am Markt bestehen können. Man muss also akzeptieren, dass Insolvenzen zur Wirtschaft dazugehören. Es gibt sie in besonders schlechten Zeiten und auch in guten Zeiten – oder eben in so einer mittleren Phase wie jetzt. Letztlich ist das Ausscheiden unproduktiver Unternehmen und die damit verbundene Umverteilung wertvoller ökonomischer Ressourcen - insbesondere der Fachkräfte - an bessere Unternehmen entscheidend für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Krisen können sich daher auch als reinigende Gewitter herausstellen.
Die Fragen stellte Wolfgang Sender.
Zur Person: Prof. Dr. Steffen Müller
Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität sowie Leiter der Insolvenzforschung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)