Mindestlohn in Deutschland: Zur aktuellen Debatte

Der Mindestlohn in Deutschland liegt aktuell bei 12,41 Euro brutto pro Stunde. Mit nur wenigen Ausnahmen wie Minderjährige ohne Berufsabschluss und Praktikanten ist dies deutschlandweit das untere Lohnniveau. Anfang 2025 soll er nach Beschluss der Mindestlohnkommission auf 12,82 Euro steigen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sich zwischenzeitlich für mindestens 14 Euro ausgesprochen, aus der Politik kommen Rufe nach 15 Euro. Wir sprechen zum Mindestlohn in Deutschland mit dem Arbeitsmarktexperten Professor Dr. Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

Interviews Mindestlohn

Herr Professor Müller, der Mindestlohn in Deutschland wird durch die Mindestlohnkommission festgelegt, an der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Wissenschaftler beteiligt sind. 2023 hatte die Kommission den Mindestlohn auf 12,82 Euro ab dem 01.01.2025 festgelegt. Jetzt kommen Rufe nach einem deutlich höheren Mindestlohn. Unter anderem hat sich Bundeskanzler Scholz für eine Erhöhung des Mindestlohns ausgesprochen. Er plädierte für eine Anhebung auf 14 Euro, um dann im nächsten Schritt auf 15 Euro anzuheben. Kommt diese Forderung zur rechten Zeit?

Steffen Müller: Deutschland hat bisher vergleichsweise gute Erfahrungen mit dem Mindestlohn gemacht. Die Einführung der Untergrenze von 8,50 Euro im Jahr 2015 hat kaum Jobs gekostet und aktuelle Studien legen nahe, dass selbst die Erhöhung auf 12 Euro im Oktober 2022 zumindest kurzfristig keine negativen Effekte auf die Beschäftigung hatte. Aber die Effekte des Mindestlohns hängen letztlich doch von seiner Höhe ab, und es gibt einen Punkt, ab dem dann auch verstärkt Jobs zerstört werden. Mit einer Forderung von 15 Euro, aber selbst mit 14 Euro, würde Deutschland einen der höchsten Mindestlöhne innerhalb der EU erhalten. Aktuell liegt es noch hinter Luxemburg, den Niederlanden und Irland. Dem steht gegenüber, dass Deutschland momentan eine der schwächsten Wachstumsraten in Europa hat. Es ist gut möglich, dass 15 Euro Mindestlohn dann doch zu Arbeitsplatzverlusten führen werden – zumal in einer konjunkturellen Schwächephase. 

Bei der letzten Beschlussfassung der Mindestlohnkommission im Juni 2023 erfolgte eine Festlegung zum 01.01.2024 auf 12,41 Euro und zum 01.01.2025 auf 12,82 Euro. Begründet wurde dieser moderate Anstieg damit, dass die Beschlussfassung in eine Zeit schwachen Wirtschaftswachstums und anhaltend hoher Inflation in Deutschland fiel. Auch seien die Folgen der Corona-Pandemie in vielen Wirtschaftszweigen sowie die wirtschaftlichen Folgen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine weiterhin zu spüren gewesen. Ist es angesichts dieses moderaten Anstiegs nicht an der Zeit für einen deutlich höheren Mindestlohn in Deutschland?

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mindestlohn zuvor rasant gestiegen war, zunächst auf 10,45 Euro zum 01.07.2022 und dann auf 12,00 Euro zum 01.10.2022. Letzteres war eine Steigerung um 14,8 Prozent. Die Gründe, die für die moderate Steigerung zum Jahresanfang 2024 und nun 2025 angeführt wurden, sind nachvollziehbar. Für 2025 wird immerhin ein moderates Wachstum von über einem Prozentpunkt prognostiziert, und Zinssenkungen der EZB könnten der Wirtschaft Impulse geben. Was ab 2026 sinnvoll ist, wird in der Mindestlohnkommission dann im kommenden Jahr unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Entwicklung besprochen werden. Ich kann mir vorstellen, dass dann eine weitere leichte Erhöhung des Mindestlohns ansteht. 

Dennoch gehen einzelne Unternehmen in diese Richtung: Der Lebensmittelhändler LIDL hat angekündigt, ab September einen Mindesteinstiegslohn von 15 Euro zu zahlen. Die Gewerkschaften fordern derzeit Lohnerhöhungen im Größenbereich von 7 bis etwa 15 Prozent und waren damit beispielsweise in der Bankenbranche bereits erfolgreich.

Die Lohnsetzung einzelner Unternehmen unterscheidet sich grundlegend von den Erwägungen, die die Verhandlungspartner in der Mindestlohnkommission leiten sollte. Ein gesetzlicher Mindestlohn stellt eine Untergrenze für alle Unternehmen dar, egal wie gut es dort wirtschaftlich gerade läuft. Steigt der Mindestlohn stark, werden schwache Unternehmen Jobs abbauen oder ganz schließen. Dass einzelne Unternehmen aus dem Niedriglohnbereich schon jetzt eine Untergrenze von 15 Euro zahlen und dies medienwirksam kommunizieren, deutet auf einen erhöhten Arbeitskräftebedarf in diesen Unternehmen hin. Selbstverständlich gibt es auch Branchen, in denen sehr viel mehr als 15 Euro pro Stunde verdient wird.

Tarifvertraglich vereinbarte Löhne stellen ebenfalls eine bindende Lohnuntergrenze dar. Diese gilt aber nur für Unternehmen, die nach Tarif zahlen, und grundsätzlich steht es Unternehmen frei, aus dem Tarifvertrag auszusteigen, was jedoch auch den Ausstieg aus dem Arbeitgeberverband nach sich ziehen kann. Der Unterschied zum Mindestlohn ist also, dass Unternehmen der tariflichen Lohnuntergrenze legal entgehen können. Die Tarifvertragspartner achten daher in der Regel darauf, dass die schwächsten Unternehmen, die noch nach Tarif zahlen, nicht überfordert werden.

In Deutschland arbeiten rund 45 Millionen Menschen, davon dürften etwa 6-7 Millionen Menschen direkt von einer Änderung des Mindestlohns betroffen sein. Das sind etwa so viele wie die größten Gewerkschaften Mitglieder haben und die von oft höheren Tariflöhnen profitieren. Wie wichtig ist der Mindestlohn gesamtgesellschaftlich vor diesem Hintergrund?

Mindestlöhne können ökonomisch vor allem dann begründet werden, wenn Arbeitgeber über hohe Arbeitsmarktmacht gegenüber Niedriglohnempfängern verfügen und Löhne diktieren, die weit unter der Produktivität dieser Beschäftigten liegen. Das ist es nicht nur eine Frage der - wie auch immer zu definierenden - Gerechtigkeit, denn diese so genannte Monopsonmacht kann dazu führen, dass zu wenige Menschen beschäftigt werden. In solchen Situationen können Mindestlöhne die Beschäftigung also sogar erhöhen. Es gibt Studien, die Mindestlöhne mit höherer Jobzufriedenheit zusammenbringen. Ob es darüber hinaus gesamtgesellschaftlich positive Effekte des Mindestlohns gibt, wage ich nicht zu beurteilen. 

Die beschlussfassende Mindestlohnkommission steht derzeit unter Druck. Zunächst hatte der Bundestag eine Erhöhung unter Umgehung der Kommission beschlossen, dann kam es 2023 zu Uneinigkeit in der Kommission. Nun forderte beispielsweise der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil eine Reform der Mindestlohnkommission. Sie solle nicht nur ökonomisch betrachten, sondern die gesellschaftlichen Auswirkungen berücksichtigen, wird der SPD-Politiker zitiert. Glauben Sie, dass das Modell Mindestlohnkommission reformiert werden sollte?

Aus meiner Sicht spielt bei solchen Aussagen eher der Vorwahlkampf für die Bundestagswahl 2025 eine Rolle. Die Mindestlohnkommission ist bereits mit den Tarifvertragspartnern, also Vertretern der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, besetzt. Dass am Ende diejenigen eine Mehrheit haben, die den Lohn bezahlen müssen, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Sonst würden hier schließlich Bestellungen auf Kosten Dritter vorgenommen. Ich halte auch nicht viel davon, Lohnsetzungen politisch aufzuladen, indem wohlfeile, aber letztlich undefinierte Kampfbegriffe wie anständige Löhne, Gerechtigkeit, Würde oder Respekt hineindefiniert werden. 

Die Beschäftigung ist infolge der Mindestlohneinführung kaum gesunken. Wenn nicht über die Stellschraube Beschäftigung: Wie können Unternehmen die Einführung oder Anhebung des Mindestlohns kompensieren? Wer zahlt letztlich für den Mindestlohn?

Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten, höhere Lohnkosten bei gleicher Beschäftigung zu finanzieren: Preiserhöhungen, sinkende Unternehmensprofite oder steigende Produktivität. Natürlich können diese drei Mechanismen gleichzeitig auftreten. Wir finden in einer aktuellen Studie zur Mindestlohneinführung, dass vom Mindestlohn betroffene Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes die Preise um etwa 1% stärker erhöhen als nicht betroffene Unternehmen. Das ist ein sehr kleiner Effekt. Die Hauptlast des höheren Mindestlohns wurde durch eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität erzielt, welche durch höhere Effizienz der Unternehmen sowie durch verstärktes Outsourcing und einen höheren Kapitaleinsatz erreicht wurde. Auch für Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor finden wir eine höhere Arbeitsproduktivität, können mangels Daten zu Preisen jedoch nicht sagen, ob und wie stark Preise erhöht wurden. Ökonomische Theorie würde hier nahelegen, dass Preiserhöhungen im Dienstleistungssektor leichter fallen als in der Industrie, denn letztere steht im internationalen Wettbewerb und kann einseitig in Deutschland gestiegene Löhne nicht so leicht an Kunden überwälzen. 

Sie haben eine Verlagerung der Beschäftigung hin zu besser zahlenden Firmen infolge der Einführung des Mindestlohns festgestellt. Was bedeutet dies für Unternehmen, die ihre Produktivität nicht adäquat steigern können?

Wir bestätigen mit unserer Studie zum Mindestlohn frühere Ergebnisse, dass vom Mindestlohn betroffene Unternehmen Beschäftigung abgebaut haben und nicht betroffene Unternehmen gewachsen sind. Da nicht betroffene Unternehmen im Mittel nicht nur besser zahlen, sondern auch produktiver sind, kann eine solche Verlagerung grundsätzlich dazu beitragen, dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität durch den Mindestlohn steigt. Wir finden tatsächlich, dass die aggregierte Produktivität in lokalen (Industrie-)Arbeitsmärkten angestiegen ist. Das lag jedoch ausschließlich an der Produktivitätssteigerung der bestehenden Betriebe und nicht an der Verlagerung der Beschäftigung. Es ist möglich, dass der Impuls durch den Mindestlohn zu klein war, um positive Effekte einer Verlagerung auf bessere Unternehmen in relevanter, messbarer Größenordnung zu erzeugen.

Glauben Sie, dass diese Produktivitätsgewinne beliebig skalierbar sind?

Nein, solche Produktivitätsgewinne sind ganz sicher nicht beliebig skalierbar. Im Jahr 2015, als der Mindestlohn eingeführt wurde, gab es offensichtlich eine Reihe von Niedriglohnunternehmen, die ihre Produktivitätspotenziale noch nicht voll ausgeschöpft hatten. Das ist nicht verwunderlich, denn es ist gut dokumentiert, dass Manager häufig vor den Konflikten und Unannehmlichkeiten zurückschrecken, die damit verbunden sind, Beschäftigte zu noch höheren Leistungen anzuspornen. Der Mindestlohn hat dann in manchen betroffenen Unternehmen dazu geführt, dass diese Potenziale gehoben werden mussten, um bestehen zu können. Entsprechend weniger Luft nach oben ist heute in diesen Betrieben. 

Allerdings ist Deutschland ohnehin kein Land, das durch niedrige Löhne im Wettbewerb besteht. Sollten weitere deutliche Erhöhungen des Mindestlohns zum Marktaustritt von Unternehmen führen, deren Geschäftsmodell auf Niedriglöhnen beruht, ist auch vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Fachkräftemangels die Hoffnung berechtigt, dass betroffene Beschäftigte von besser zahlenden, produktiveren Unternehmen aufgefangen werden.

Wir arbeiten in der deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik meistens mit absoluten Beträgen, so auch beim Mindestlohn. Dies macht es oft sehr schwer zu vergleichen, was eine Lohnsteigerung tatsächlich für den Arbeitnehmer bedeutet. Wäre es grundsätzlich sinnvoll, hier zu prozentualen Anhebungen zu kommen, beispielsweise gekoppelt an die Inflationsrate, indem man sagt, nach einer Inflation von fünf Prozent im Jahr X wird der Mindestlohn im Jahr X+1 um fünf Prozent angehoben?

Die prozentuale Änderung der Lohnkosten ist für jeden Arbeitgeber unterschiedlich. Bei unveränderter Arbeitszeit setzt sie sich zusammen aus der Summe der Stunden, die Menschen unter dem Mindestlohn arbeiten, multipliziert mit der Differenz aus dem derzeitigen mittleren Stundenlohn dieser Menschen und dem neuen Mindestlohn. Weil manche Beschäftigte zwischen dem alten und dem neuen Mindestlohn arbeiten, ist die prozentuale Erhöhung des Mindestlohns immer größer als die mittlere prozentuale Erhöhung der Löhne der vom Mindestlohn erfassten Beschäftigten und Unternehmen.

Eine Kopplung an die Inflationsrate erhöht den Abstand zwischen Mindestlohn und Durchschnittslohn, sobald es reale, also inflationsbereinigte, Lohnzuwächse oberhalb des Mindestlohns gibt. Das ist in den meisten Jahren der Fall gewesen. Eine Kopplung an die Entwicklung des Durchschnittslohns wäre da nachvollziehbarer. Eine solch starre Bindung nimmt natürlich den Beteiligten die Möglichkeit, auf besondere Umstände wie etwa einen Einbruch der Arbeitsnachfrage zu reagieren. Ich wüsste auch nicht, wozu man dann noch eine Mindestlohnkommission bräuchte.

Japan hat beispielsweise ein Mindestlohnmodell, bei dem auf Präfekturebene Beträge festgelegt werden. Dies reflektiert höhere Kosten in den Städten und regionale Besonderheiten. Wäre ein solches Modell auch für Deutschland passend – angesichts rasant steigender Lebenshaltungskosten in den Städten?

Es gibt in Deutschland keine ausreichend gute Statistik über lokale Lebenshaltungskosten. Eine Regelung auf Bundeslandebene wäre eventuell umsetzbar, würde aber den großen Stadt-Land Unterschieden innerhalb der Länder nicht gerecht. 

Wo könnte der Mindestlohn in Deutschland in zehn Jahren liegen?

Wenn wir mit einem Reallohnwachstum von einem Prozent pro Jahr rechnen und mit einer Inflation von zwei Prozent, dann könnte der Mindestlohn in zehn Jahren bei etwa 17 Euro liegen (12,81 Euro * 1,03^10). Der gesetzliche Mindestlohn wäre dann doppelt so hoch wie bei seiner Einführung 2015. 

Die Fragen stellte Wolfgang Sender.


Zur PersonProf. Dr. Steffen Müller

Prof. Dr. Steffen Müller

Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität sowie Leiter der Insolvenzforschung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)


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