Zur aktuellen Lage der Konjunktur in Deutschland

Ende Juli 2024 stellt sich die Wirtschaft in Deutschland so dar: Das Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal leicht gesunken (‒0,1%), die Zahl der Arbeitslosen ist im Juli infolge der schwachen Konjunktur deutlicher gestiegen als für den Beginn der Sommerpause üblich (+192.000 gegenüber dem Vorjahr). Gleichzeitig stieg die Inflation im Juli um 2,3% gegenüber dem Vorjahresmonat. Was dies bedeutet, klären wir mit Professor Dr. Oliver Holtemöller, Stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und dort Leiter der Abteilung Makroökonomik.

Interviews Konjunktur

Herr Professor Holtemöller, wenn man auf die negativen Entwicklungen bei Bruttoinlandsprodukt, Konjunktur und Arbeitslosenzahlen schaut: Wie schlimm ist die Lage?

Oliver Holtemöller: Ich denke, dass man durch das kleine Minus im Wirtschaftswachstum jetzt nicht zusätzlich beunruhigt sein muss. Diese Daten können sich auch noch ändern. Wichtiger als eine Nachkommazahl ist doch dieser Fakt: Wir haben in Deutschland insgesamt seit einiger Zeit eine schwache wirtschaftliche Entwicklung. Und offenbar haben wir das richtige Instrument hiergegen noch nicht gefunden. Wir haben nicht nur hohe Insolvenzzahlen, eine steigende Arbeitslosigkeit und eine noch nicht gebändigte Inflation. Wir haben auch insgesamt trübe Aussichten. Man muss also schon Optimist sein, um hier an eine schnelle Lageänderung zu glauben.

Wo steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern?

Tatsächlich sieht es in anderen Ländern des Euroraums insgesamt besser aus. Die Wirtschaft im Euroraum legte im zweiten Quartal 2024 um 0,3% zu, und darin ist der Rückgang in Deutschland bereits enthalten. In den großen Euroraum-Ländern Frankreich, Italien und Spanien wuchs die Wirtschaft kräftig. Chinas Wachstumswerte liegen zwar unterhalb früherer Werte, im weltweiten Maßstab aber immer noch hoch. In den USA sehen wir auch keine Wachstumsschwäche. Die deutsche Wirtschaft kann aktuell leider nicht von dem außenwirtschaftlichen Umfeld profitieren.

Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen dafür, dass sich die deutsche Wirtschaft nicht wie in den USA positiv entwickelt, sondern auf der Stelle tritt?

Wir haben in Deutschland eine starke Verunsicherung, was sowohl die Privathaushalte als auch die Unternehmen betrifft. Das hat auch – aber nicht nur – mit der Wirtschaftspolitik der Ampel zu tun. Die Wahrnehmung ist, dass die aktuelle Wirtschaftspolitik nicht klar und transparent ist. In vielen Politikbereichen weiß man nicht, was man zu erwarten hat. Das betrifft insbesondere Fragen im Bereich Energie, die sowohl für die Industrie wichtig ist als auch beispielsweise für den Bereich Bau. Haushalte und Unternehmen halten sich daher mit größeren Ausgaben zurück.

Wie sieht es regional aus?

Die Schwäche der deutschen Wirtschaft ist derzeit nicht kurzfristig, nicht auf Sektoren begrenzt und nicht auf einzelne Regionen begrenzt. Werfen wir einmal einen Blick auf Sachsen-Anhalt, wo wir als IWH kürzlich gemeinsam mit Creditreform die Stimmung in den Unternehmen näher betrachtet haben: Der Konjunkturindikator für den Mittelstand liegt hier aktuell auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Fast jedes zweite Unternehmen rechnet mit einem Umsatzminus, und insbesondere das Baugewerbe meldet sehr schlechte Geschäftsaussichten. Das ist alles schon wenig erfreulich.

Wenn die deutsche Wirtschaft in einer Gesamtschwäche steckt: Was muss jetzt getan werden?

Wichtig ist zunächst, dass wir erkennen, dass Handlungsbedarf besteht. Handlungsbedarf bedeutet: Einfach nur zu warten geht nicht. Vor allem müssen wir uns um das Potenzialwachstum kümmern, also die mittelfristige Entwicklung von Arbeitseinsatz, Investitionen und Produktivität in den Blick nehmen. Abzuraten ist hingegen von kurzfristigem politischen Strohfeuer – vielleicht, weil man auf anstehende Wahlen schaut. Der richtige Impuls wäre eine rationale und für Haushalte und Unternehmen planbare Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf das Potenzialwachstum – unter Berücksichtigung der gesetzlich festgelegten Emissionsreduktionsziele. 

Und das heißt konkret?

Wenn wir abstrakter auf unser Wirtschaftswachstum schauen, jenseits der kurzfristigen Konjunktur, dann sehen wir, dass dieses Potenzialwachstum vor allem unter der Demographie leidet: Wir haben immer mehr Menschen, die aus dem Arbeitsprozess aussteigen und immer weniger, die einsteigen. Das nagt an unseren Wachstumschancen. In diesem Bereich gab es ja bisher nur Vorschläge und wenig Ergebnisse. Und selbst diese Vorschläge wirken oft nicht ausgereift. Nehmen wir nur den jüngsten Vorschlag für einen Steuerbonus für zuwandernde ausländische Fachkräfte, der grundsätzlich sinnvoll sein kann, aber in der gegenwärtigen Lage von fast allen beteiligten Seiten abgelehnt wird. Richtig wäre, sich um eine generelle, allgemeine Entlastung aller Beschäftigten und Unternehmen zu kümmern.

Und das reicht?

Demographie und Abgabenlast sind nur zwei Punkte. Energiewende und Digitalisierung sind zwei weitere große Baustellen. Hier kommt es vor allem darauf an, die Rahmenbedingungen richtig zu gestalten, sodass Haushalte und Unternehmen belastbare Pläne aufstellen können und mehr private Investitionen erfolgen.

Mit Blick auf anstehende Wahlen könnte in der deutschen Politik dennoch der Wunsch entstehen, jetzt kurzfristig etwas mehr für die Konjunktur zu tun … 

Das wäre kaum erfolgversprechend. Denn die Regierung hat ja nur wenige Mittel in der Hand, um die Konjunktur ganz kurzfristig zu beeinflussen. Eine solche konjunkturelle Feinsteuerung ist nicht zu empfehlen. Um nachhaltiges Wachstum zu erreichen, sollte die Wirtschaftspolitik mittel- bis langfristig ausgerichtet sein. 

Tatsächlich hat die Bundesregierung ja in der letzten Zeit verschiedene Maßnahmenpakete zur Belebung der Wirtschaft verabschiedet, zuletzt das Wachstumspaket. Geht das in die richtige Richtung?

Dass sich die Regierung mit dem Wachstumspaket Gedanken gemacht hat, ist richtig. Aber was davon wann und wie umgesetzt wird, ist noch offen. Und nochmal: Eine generelle, allgemeine Entlastung aller Beschäftigten und Unternehmen ist der vielversprechendere Weg als ein breites Bündel von Maßnahmen, die kleinteilig und kaum zu überschauen sind.

Eine zweite jüngere Initiative war das Rentenpaket II, das nach Ansicht der Regierung die Renten zukunftssicher machen soll.

… was es aber wahrscheinlich nicht tut. Das Rentenpaket II wird die Demographie-Probleme eher verstärken, denn die Sozialversicherungsbeiträge müssen zwangsläufig steigen und das Gegenteil wäre wirtschaftlich angezeigt: eine Entlastung in diesem Bereich. 

Für Deutschland wird angeführt, dass die Wirtschaft auch heute noch unter den Folgen der Covid-Pandemie leidet. Die Pandemie ist seit März 2022 passé – wirkt sie tatsächlich noch?

Ja, durchaus. Wir sehen das beispielsweise bei den Insolvenzen. Bei manchen Unternehmen, die jüngst in Zahlungsschwierigkeiten gekommen sind, liegen die Ursachen noch in der Pandemie oder sogar davor. Massive Unterstützungen des Staates haben zeitweise Insolvenzen abgewendet – mittelfristig gehen angeschlagene Unternehmen aber eben doch pleite, und das sehen wir jetzt. 

Und was erwarten Sie für die nahe Zukunft?

Ich denke, dass sich die Konjunktur in den nächsten Monaten langsam etwas erholen wird. Die privaten Haushalte haben zuletzt wieder Realeinkommenszuwächse erzielt, das wird sich über kurz oder lang auch im Konsum niederschlagen. Im Herbst werden die Prognosen vieler Organisationen allerdings vermutlich zurückhaltender ausfallen als die Sommerprognosen. Das ist schon allein in den abgerechneten Zahlen aus dem ersten Halbjahr angelegt. Die US-Wahlen und die geopolitischen Spannungen im Nahen Osten werden jedoch weiterhin für Unsicherheit sorgen.

 

Die Fragen stellte Wolfgang Sender.


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Prof. Dr. Oliver Holtemöller

Professor Dr. Oliver Holtemöller ist Stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und dort Leiter der Abteilung Makroökonomik.


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