Gutachten zu Kohlemilliarden: Transparenz der Mittelvergabe erhöhen
Geld für Bildung, für Straßen und Schienen sowie für Forschung und Entwicklung: Die Fördermittel zum Ausgleich für den Kohleausstieg sind bislang größtenteils in Projekte geflossen, die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den betroffenen Regionen stärken sollen. Weil Behörden zunächst Richtlinien zur Mittelvergabe ausarbeiten mussten, wurde vom Gesamtbudget von 41,09 Milliarden Euro bis Ende des Jahres 2022 mit 659 Millionen Euro allerdings erst ein kleiner Teil abgerufen. Zu diesen Ergebnissen kommt ein Gutachten der beiden Leibniz-Institute für Wirtschaftsforschung in Halle und Essen, IWH und RWI, das am 16.08.2023 veröffentlicht wurde. Die Analyse liefert erstmals einen Überblick über das Förderprogramm, das viele unterschiedliche Maßnahmen enthält. Es handelt sich um das erste in einer Reihe von Gutachten der begleitenden Evaluierung: Im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz prüfen IWH und RWI, ob die Finanzhilfen zielgenau ausgegeben werden und wie die Maßnahmen wirken.
Das Gutachten betrachtet den Zeitraum von der Mittelfreigabe im August 2020 bis zum Jahresende 2022. Welche Effekte die bis dahin finanzierten Projekte erzielen, lässt sich statistisch erst mittel- bis langfristig nachweisen: Der bisherige Zeitraum ist zu kurz für belastbare Aussagen, zumal Pandemie und Energiekrise die jüngste Wirtschaftsentwicklung stark verzerrt haben. Die Ökonomen stellen allerdings fest, dass die Braunkohlereviere in der Lausitz, in Mitteldeutschland und im Rheinland selbst ohne Kohleausstieg vor enormen Herausforderungen stehen. Getrieben vom demographischen Wandel geht die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dort besonders stark zurück. Das ist einer der Gründe, weshalb IWH und RWI empfehlen, das Programm in einzelnen Aspekten anzupassen:
1) Erwerbspersonenpotenzial stärken. Der Mangel an Erwerbspersonen wird sich weiter verschärfen, was die Wirtschaftsentwicklung hemmt. Mehr noch als bisher sollten die Finanzhilfen dem entgegenwirken und dabei breit ansetzen. Sie sollten vorschulische, schulische, berufliche und akademische Bildung ebenso verbessern wie die Standortbedingungen für Hochqualifizierte. Zudem sollten Arbeitsstätten besser erreichbar sein.
2) Willkommenskultur beleben. Selbst wenn sich einheimische, bislang nicht erwerbstätige Personen für den Arbeitsmarkt gewinnen lassen, werden aufgrund der zunehmenden Alterung der Bevölkerung immer mehr Arbeitsplätze nicht mehr besetzt werden können. Um diesen Mangel an Erwerbspersonen zu mildern, sollte die Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt weiter verbessert werden.
3) Bürger einbinden. Die Bevölkerung vor Ort sollte noch besser in die Entscheidungen über die Mittelvergabe eingebunden werden, und die lokale Kommunikation über die Gründe und erwarteten Effekte von Fördermaßnahmen sollte intensiviert werden. Die Herausforderungen des Wandels und die Wirkungen des Programms sollten klar benannt werden, um keine unrealistischen Erwartungen zu wecken. Zu diesem Zweck sollten u. a. die Ergebnisse der Evaluierung samt den Daten, die ihr zugrunde liegen, stets zügig veröffentlicht werden.
4) Langfristige Ziele fokussieren. Der Fokus sollte auf denjenigen Maßnahmen liegen, die am besten geeignet sind, die vorab definierten Ziele zu erreichen, nämlich Produktivität und Nachhaltigkeit der Wirtschaft in den Regionen zu steigern.
„Mit den sehr umfangreichen Finanzhilfen für die betroffenen Regionen im Zuge des Kohleausstiegs sind große Erwartungen verbunden“, sagt IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller, der das Forschungsteam koordiniert. „Mittlerweile ist der Vergabeprozess angelaufen, und es zeigt sich, dass inbesondere die Projektauswahl sowie die Kommunikation und Umsetzung der Förderentscheidungen noch verbessert werden können.“ Torsten Schmidt, Konjunktur-Chef des Projektpartners RWI, ergänzt: „Mit unserer unabhängigen begleitenden Evaluierung versuchen wir, das bereits laufende Programm noch wirksamer zu machen. Um konkrete Effekte wissenschaftlich zu belegen, ist es allerdings noch zu früh.“
Hintergrund: Kohleausstieg, Milliardenförderung und wie deren Wirkung geprüft wird
Um die gesetzlichen Klimaschutzziele zu erreichen, hat die Politik den Ausstieg aus der Kohleverstromung beschlossen. Davon betroffen sind vor allem die Braunkohlereviere in der Lausitz, in Mitteldeutschland und im Rheinland. Der Bund gibt diesen drei Regionen bis zum Jahr 2038 bis zu 40 Milliarden Euro, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kohleausstiegs zu mildern. Außerdem erhalten zwei kleinere Braunkohleregionen – das ehemalige Helmstedter Revier und das Altenburger Land – sowie zehn weitere Kreise und kreisfreie Städte mit Steinkohlekraftwerken Finanzhilfen von etwas mehr als einer Milliarde Euro.
Wird dieses Geld zielgenau ausgegeben? Und welche Wirkung entfalten die unterschiedlichen Maßnahmen? Diese Fragen untersucht das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zusammen mit dem RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, das seinen Sitz in Essen hat. Die groß angelegte Evaluierung läuft in den Jahren 2022 bis 2026 im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Die Institute sammeln fein gegliederte Daten zum Förderprozess sowie zu den Begünstigten und werten diese aus. Für ein umfassendes Bild der Lage kombiniert das Team sowohl quantitative und qualitative Methoden als auch mikro- und makroökonomische Ansätze. Neben wirtschaftlichen Kriterien sollen auch Aspekte wie Wahlverhalten und Lebenszufriedenheit untersucht werden. Regelmäßige Gutachten stellen die Forschungsergebnisse vor. Die Analyse soll es der Politik erlauben, Erfolge zu erkennen und bei weniger günstigen Entwicklungen gegenzusteuern.
Publikation:
Brachert, Matthias; Heinisch, Katja; Holtemöller, Oliver; Kirsch, Florian; Neumann, Uwe; Rothgang, Michael; Schmidt, Torsten; Schult, Christoph; Solms, Anna; Titze, Mirko: Begleitende Evaluierung des Investitionsgesetzes Kohleregionen (InvKG) und des STARK-Bundesprogramms. Zwischenbericht vom 30.06.2023. IWH Studies 6/2023. Halle (Saale) 2023.
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Zugehörige Publikationen
Begleitende Evaluierung des Investitionsgesetzes Kohleregionen (InvKG) und des STARK-Bundesprogramms. Zwischenbericht vom 30.06.2023
in: IWH Studies, 6, 2023
Abstract
<b>Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz </b><br /><br />Das Klimaschutzgesetz (KSG) sieht eine Reduktion der deutschen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 65 Prozent gegenüber den Emissionen im Jahr 1990 vor. Der Ausstieg aus der thermischen Verwertung der Kohle (vor allem der Braunkohle) leistet einen substanziellen Beitrag zum Erreichen dieser Ziele. Der Kohleausstieg stellt die Braunkohlereviere (und die Standorte der Steinkohlekraftwerke) jedoch vor strukturpolitische Herausforderungen. Um den Strukturwandel in diesen Regionen aktiv zu gestalten, hat der Bundestag im August 2020 mit Zustimmung des Bundesrats das Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen (StStG) beschlossen. Über dieses Gesetz stellt der Bund bis zum Jahr 2038 Finanzhilfen von 41,09 Mrd. Euro zur Verfügung. Im Fokus der Politikmaßnahmen stehen verschiedene Ziele, vor allem gesamtwirtschaftliche (Wertschöpfung, Wachstum, Steueraufkommen), wettbewerbliche (Produktivität), arbeitsmarktpolitische (Beschäftigung, Beschäftigungsstrukturen), verteilungspolitische (regionale Disparitäten) sowie klimapolitische (Treibhausgasreduzierung, Nachhaltigkeit). Die im StStG vorgesehenen strukturpolitischen Interventionen umfassen ein breites Maßnahmenbündel. Das Gesetz regelt auch die Berichtspflichten der Bundesregierung gegenüber Bundestag und Bundesrat. Diese beinhalten insbesondere die wissenschaftliche Evaluierung des Gesetzes in einem zweijährigen Zyklus. Bei dem vorliegenden Bericht handelt es sich um das erste Dokument in dieser Reihe. Der aktuelle Bericht fokussiert sich dabei insbesondere auf die im Rahmen des Investitionsgesetzes Kohleregionen (InvKG) und des STARK-Bundesprogramms geplanten Maßnahmen sowie die vorläufige Bewertung ihrer möglichen Effekte. Angesichts des Programmstarts im Jahr 2020 und einer fast zwanzigjährigen Laufzeit des Programms kann der Bericht allenfalls einen ersten Zwischenstand wiedergeben. Viele Maßnahmen haben noch nicht oder gerade erst begonnen. Die hier vorgelegten empirischen Analysen basieren auf dem Datenstand vom 31.12.2022. Es ist vorgesehen, den Bericht in einem jährlichen Rhythmus zu aktualisieren und zu erweitern.