Eine Hochfrequenzanalyse zur Abgrenzung von überlagernden Effekten am Beispiel des Ausfallrisikos italienischer Staatsanleihen
Die wirtschaftliche Aktivität und das Ausfallrisiko staatlicher Schulden beeinflussen sich gegenseitig. Sinkt die wirtschaftliche Aktivität einer Volkswirtschaft, steigt wegen fallender Steuereinnahmen das Risiko, dass der Staat Zinszahlungen und Tilgungen auf Staatsanleihen nicht zurückzahlen kann. Umgekehrt kann das staatliche Ausfallrisiko seinerseits die wirtschaftliche Aktivität beeinflussen. Steigt das Ausfallrisiko, geraten Banken unter Druck, die Staatsanleihen in ihren Bilanzen führen, und reduzieren die Kreditvergabe an Unternehmen. In der Konsequenz sinkt die wirtschaftliche Aktivität. Dieser Beitrag nutzt hochfrequente News-Ticker-Daten zur Ableitung politischer Ereignisse und davon ausgelöster Fluktuationen im Staatsschuldenrisiko. Diese allein politisch bedingten Fluktuationen ermöglichen es, den Effekt des Staatsschuldenrisikos auf die wirtschaftliche Aktivität zu messen, ohne dass die Schätzung von der gegenläufigen Beziehung der Variablen beeinträchtigt wird. Das Vorgehen wird am Beispiel Italiens erläutert.
14. Juli 2023
Inhalt
Seite 1
AusfallrisikoSeite 2
Herleitung politischer EreignisseSeite 3
ErgebnisSeite 4
Endnoten Auf einer Seite lesenDie Verschuldung der Industrienationen liegt mit durchschnittlich 112% der Wirtschaftsleistung auf einem historisch hohen Niveau und soll wirtschaftlichen Prognosen zufolge weiter steigen.1 Welche Risiken gehen mit derartigen Schuldenständen einher und wie wirkt sich diese Entwicklung auf ökonomische und finanzielle Variablen der betroffenen Volkswirtschaften aus? Blieben andere Faktoren konstant, sollte eine höhere staatliche Verschuldung das Staatsschuldenausfallrisiko erhöhen, also die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staat ausstehende Schulden oder Zinszahlungen nicht begleichen kann. Doch die empirische Quantifizierung volkswirtschaftlicher Kosten, die mit einem Anstieg des staatlichen Ausfallrisikos einhergehen, ist schwierig. Das Problem besteht in der wechselseitigen Beziehung volkswirtschaftlicher Variablen und dem Ausfallrisiko staatlicher Schulden. Zum einen reflektiert ein erhöhtes staatliches Ausfallrisiko das volkswirtschaftliche Geschehen, da die Steuereinnahmen des Staates von der wirtschaftlichen Aktivität abhängen und der Staat Zinszahlungen und Tilgungen zumindest teilweise aus Steuereinnahmen bedient. Eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage erhöht also über schwindende Steuereinnahmen das Risiko staatlicher Zahlungsunfähigkeit. Zum anderen verändert das staatliche Ausfallrisiko potenziell auch die wirtschaftliche Aktivität. Es ist zum Beispiel möglich, dass Banken weniger Kredite vergeben, wenn das Ausfallrisiko staatlicher Schulden steigt. Denn ein solcher Anstieg wirkt sich auf die Aktiva der Banken aus, die häufig große Mengen an Staatsanleihen halten. Steht weniger Kapital für Kredite an Unternehmen zur Verfügung, kann dies die private Investitionstätigkeit und damit die gesamtwirtschaftliche Lage beeinträchtigen. Diese wechselseitige Einflussnahme oder Kausalität erschwert es, den Effekt von Veränderungen des staatlichen Ausfallrisikos auf ökonomische und finanzielle Variablen statistisch zu isolieren und so empirisch zu bestimmen, da dieser Effekt von der gegenläufigen Wirkung dieser Variablen auf das Ausfallrisiko überlagert wird.
Analyse mittels hochfrequenter Daten
In diesem Beitrag werden hochfrequente Textdaten genutzt, um die Auswirkungen staatlichen Ausfallrisikos auf ökonomische und finanzielle Variablen von gegenläufigen Effekten zu trennen und empirisch zu quantifizieren. Zu diesem Zweck werden Fluktuationen im staatlichen Ausfallrisiko Italiens hergeleitet, die eindeutig politischen Ereignissen zuordenbar sind. Diese Fluktuationen werden in der weiteren Analyse zur Schätzung der Auswirkungen staatlichen Ausfallrisikos verwendet. Allgemeiner werden solche Fluktuationen auch als „Instrument“ bezeichnet, da sie anstelle einer Variablen eingesetzt werden können, um einen bestimmten Wirkmechanismus zu isolieren. Ein Instrument ermöglicht die unverzerrte Schätzung auch in Gegenwart einer wechselseitigen kausalen Beziehung, die andernfalls den interessierenden Wirkmechanismus überlagert und allgemein zu falschen Schätzergebnissen führt. Die unverfälschte Schätzung mit Hilfe des Instruments wird in diesem Fall gewährleistet, da die verwendeten Fluktuationen nicht auf Veränderungen in zugrunde liegenden wirtschaftlichen Variablen wie Inflation, Arbeitslosigkeit und Bruttoinlandsprodukt, sondern ausschließlich auf politische Ereignisse zurückgehen. Damit sind die Variationen nicht von der gegenläufigen Beziehung zwischen ökonomischen Variablen und dem Staatsschuldenausfallrisiko betroffen.
Der Verwendung politischer Ereignisse für die Konstruktion des Instruments liegt die Beobachtung zugrunde, dass die Bereitschaft zur politischen Priorisierung von Staatsschulden und deren Tilgung eine wesentliche Determinante des Ausfallrisikos staatlicher Schuldtitel darstellt.2 Der politische Prozess eignet sich demnach als Quelle von Variationen im Staatsausfallrisiko, da er potenziell tagtäglich neue Informationen in Bezug auf die Bereitschaft einer Regierung, den Schuldendienst anderen politischen Zielen über- oder unterzuordnen, bereitstellt. Diese Variationen werden aggregiert und erlauben die unverzerrte Schätzung der Effekte des Staatsschuldenausfallrisikos auf ökonomische und finanzielle Variablen.
Ein Beispiel für ein solches politisches Ereignis ist die Äußerung von Silvio Berlusconi, der in seiner damaligen Funktion als italienischer Premierminister am 7. November 2011 um 11:58 Uhr auf Rücktrittsgerüchte reagierte und diese dementierte. Der Rücktritt eines Premierministers könnte sich auf die Bereitschaft einer Regierung zur Schuldentilgung auswirken. Um nun damit einhergehende Bewegungen im Staatsschuldenrisiko zu ermitteln, wird das Risiko in einem engen Zeitfenster nach Eintritt des Ereignisses mit dem Risiko in einem engen Zeitfenster davor verglichen. Die gemessene Veränderung ist dann mit großer Wahrscheinlichkeit auf Berlusconis Dementi zurückzuführen. Andernfalls hätte die Veränderung einer anderen für das Ausfallrisiko relevanten Variablen exakt in diesen Zeitraum fallen müssen.
Abbildung 1 illustriert das beschriebene Vorgehen. Das Staatsschuldenausfallrisiko wird in diesem Fall quantifiziert über die Veränderung der Preise italienischer Staatsanleihen mit einer Restlaufzeit von drei Jahren. Es wird angenommen, dass der Markt zehn Minuten benötigt, um die Information zu verarbeiten. Diese Anpassungszeit entspricht der grau schraffierten Fläche in der Abbildung. Die Veränderung des Risikos besteht dann in der Differenz durchschnittlicher Anleihepreise in den zehn Minuten nach (gepunktete Fläche in der Abbildung) und vor (gestreifte Fläche in der Abbildung) der Anpassungsperiode.3 Es ist zu sehen, wie der italienische Anleihepreis nachgibt. Mit anderen Worten sinkt der Wert italienischer Staatsanleihen im Zuge dieses Ereignisses, was einem Risikoanstieg entspricht. Hierbei ist zu beachten, dass sich Anleihepreise gegenläufig zu den entsprechenden Zinsen entwickeln. Eine Preissenkung ist folglich äquivalent zu einem Zinsanstieg. Möglicherweise hatten die Märkte einen Regierungswechsel eingepreist und die Wahrscheinlichkeit dafür aufgrund der Gerüchte höher eingeschätzt.
Ungeachtet einer Interpretation der Motive dieser Marktreaktion ist ausschlaggebend, dass aufgrund des sehr eng spezifizierten Zeitfensters andere Faktoren kaum eine Rolle gespielt haben dürften. So ist es z. B. unwahrscheinlich, dass die Europäische Zentralbank zeitgleich und unerwartet4 eine Zinssenkung signalisiert und damit die Preise staatlicher Schuldtitel beeinträchtigt hat, die Veränderung der Anleihepreise also nicht auf die Äußerung von Berlusconi zurückzuführen ist. Damit baut das zugrunde liegende Papier5 auf der Hochfrequenzliteratur auf.6 Dieser Literatur liegt die Idee zugrunde, dass Fluktuationen in Variablen mit Hilfe von hochfrequenten Daten durch die zeitliche Eingrenzung bestimmten Ereignissen zugeordnet werden können. Eine Reihe solcher Ereignisse und dazugehöriger Variationen kann dann aggregiert für die unverzerrte Schätzung des betreffenden Wirkmechanismus verwendet werden.