Im Fokus: Industrielle Kerne in Ostdeutschland und wie es dort heute aussieht – Das Beispiel SKET Magdeburg
Die erste Privatisierung des Stammbetriebs des ehemaligen VEB Schwermaschinenbau-Kombinats „Ernst Thälmann“ (SKET) scheiterte nach zwei Jahren, und das Unternehmen ging 1996 in die Gesamtvollstreckung. Im Jahr 1998 wurden in einem zweiten Anlauf die fünf geschaffenen Auffanggesellschaften allesamt privatisiert, allerdings mit nur wenigen Beschäftigten. In einem Fall entstand eine völlig neue Produktion: die Herstellung von Komponenten für Windenergieanlagen. Der Aufschwung der erneuerbaren Energien hat den Magdeburger Schwermaschinenbauern in die Hände gespielt. Die Verfügbarkeit großer Industrieflächen war ebenfalls förderlich für diese Branche, ebenso die Kompetenzen in der Bearbeitung großer Maschinenteile. Auch andere Geschäftsfelder des früheren Schwermaschinenbau-Kombinats leben in Form mittelständischer Unternehmen fort: die Entwicklung und Herstellung von Maschinen zur Verarbeitung von Ölsaaten, Maschinen in den Bereichen Kabel- und Stahlseiltechnik, Walzwerksausrüstungen sowie EDV-Dienstleistungen.
15. Dezember 2016
Der Beitrag bildet eine Fortsetzung der Artikelserie über industrielle Kerne in Ostdeutschland. Gegenstand sind ehemals volkseigene Betriebe der DDR, für die sich in den frühen 1990er Jahren im Rahmen der Privatisierung zunächst kein Käufer fand. Zur Vermeidung einer dauerhaften De-Industrialisierung wurde versucht, industrielle Kerne zu erhalten. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert Deutscher Einheit soll exemplarisch untersucht werden, wie es in diesen industriellen Kernen nunmehr aussieht, welche Veränderungen eingetreten sind und welche Entwicklungsperspektiven sich dort abzeichnen. Auch neuere empirische Arbeiten, die sich mit den Langfristeffekten der Industrialisierung befassen, motivieren diese Artikelserie. Günstige wirtschaftliche Entwicklungsbedingungen existieren nach regionalökonomischen Vorstellungen, wenn in den Kernen durch Investitionen modernes Sachkapital geschaffen wird und qualifizierte Fachkräfte vorhanden sind, die Standortregion eine diversifizierte Unternehmenslandschaft aufweist, die zugleich Anknüpfungspunkte für den betreffenden Kern bildet, und idealerweise eigene Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten stattfinden. Demgemäß fokussiert dieser Beitrag auf Investitionen, Beschäftigungssituation sowie das regionale Umfeld und die Forschungsaktivitäten.
Gegenstand des Artikels sind die Unternehmen, die ihre Wurzeln im Stammbetrieb des VEB Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“ (SKET) Magdeburg haben. Den Einstieg bildet ein Überblick über die historischen Wurzeln des Unternehmens SKET.
Historische Ursprünge
Die Tradition des Magdeburger Schwermaschinenbaus reicht bis zum Jahr 1855 zurück, als Hermann Gruson ein Unternehmen errichtete, das in den Bereichen Eisengießerei, Maschinen- und Schiffbau tätig war. Ab 1893 gehörte es zum Krupp-Konzern. Nach 1945 war das Unternehmen zunächst eine sowjetische Aktiengesellschaft, die im Jahr 1954 in das Volkseigentum der DDR überging und als VEB Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann“ Magdeburg-Buckau firmierte. Im Jahr 1969 erfolgte die Bildung eines Kombinats, des VEB Schwermaschinenbau-Kombinats „Ernst Thälmann“ (Abkürzung SKET), zu dem 19 Betriebe mit rund 29 000 Beschäftigten gehörten (30.06.1990), und der Stammbetrieb hatte seinen Sitz in Magdeburg.
Im Juni 1990 wurden acht frühere Betriebe des SKET unter dem Dach der SKET Maschinen- und Anlagenbau AG der Treuhandanstalt zwecks Privatisierung zugeordnet. Ein McKinsey-Gutachten soll damals als Schwächen der AG die Heterogenität der Unternehmensstruktur, die große Zahl von Standorten, die starke Orientierung auf die östlichen Märkte und die niedrige Produktivität sowie als Stärken die Kenntnis der Märkte der ehemaligen Sowjetunion, die Kompetenz im Kerngeschäft, die Erfahrung mit Großvorhaben sowie motivierte Mitarbeiter attestiert haben. Für Zwecke der Sanierung der SKET AG sollten laut Beschluss der Treuhandanstalt bis 1995/1996 eine Mrd. DM verausgabt werden. Vorgesehen waren Avalkredite, Liquiditätskredite, weitere Darlehen, Kredite für Investitionen sowie Gelder für die Eigenkapitalausstattung. Die EU-Kommission hat allerdings Beihilfen in Höhe von 300 Mio. ECU (588 Mio. DM), die die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) der SKET Schwermaschinenbau Magdeburg GmbH (SKET SMM) gewährt hatte, als unvereinbar mit den Regeln des Gemeinsamen Marktes erklärt und deren Rückforderung verlangt.
Im Jahr 1994 wurden 51% der SKET-Anteile an die Oestmann & Borchert Industriebeteiligungen veräußert. Diese Privatisierung war jedoch nicht erfolgreich. Ein Antrag auf Gesamtvollstreckung wurde am 15. Oktober 1996 gestellt, für die als eine wesentliche Ursache die Erschließung neuer Märkte unter Inkaufnahme von Verlusten gesehen wurde; diese sollen das Doppelte des Umsatzes betragen haben. Im Zuge der Gesamtvollstreckung wurden fünf Auffanggesellschaften gegründet, die sich nach Produktsparten gliederten: Maschinen- und Anlagenbau, Ölmaschinen, Verseilmaschinen, Walzwerkstechnik sowie EDV- Dienstleistungen. Alle fünf Unternehmen konnten privatisiert werden, allerdings mit nur wenigen Beschäftigten. Die Europäische Kommission verwendete in ihren Beihilfe-Dokumenten den Begriff der „Baby- SKETs“. Anfang 1998 wurde die SKET Maschinen- und Anlagenbau GmbH durch den Windenergiean- lagenhersteller ENERCON übernommen und firmiert inzwischen als SKET GmbH. Die Ölmaschinenherstellung wurde 1997 von der CIMBRIA-Gruppe übernommen, gehört seit 2011 zur CPM-Gruppe und firmiert seitdem als CPM-SKET. Die Verseilmaschinenherstellung wurde im Jahr 1997 von Johannes Erich Wilms, einem Unternehmer aus Menden, erworben und trägt nunmehr den Namen SKET Verseilmaschinenbau GmbH. Im April 1998 wurde die Münchmeyer Petersen GmbH & Co KG (MPC) neuer Eigentümer der SKET Walzwerkstechnik. Heute knüpft die MWE Magdeburger Walzwerk Engineering GmbH als Unternehmen der Küttner-Gruppe Essen an die SKET-Tradition im Bereich der Walzwerkstechnik an. Der EDV-Dienstleister wurde Juni 1997 von der data experts gmbh mit Standorten in Neubrandenburg, Berlin und Magdeburg übernommen und ist als SKET EDV GmbH tätig. Für die SKET-Nachfolger hat die EU-Kommission Finanzhilfen von zusammengenommen rund 232 Mio. DM genehmigt.
Restrukturierung und Investitionen
In großem Maßstab investierte der Windkraftanlagenhersteller ENERCON in neue Produktionsstätten in Magdeburg. Neben der Übernahme der SKET Maschinen- und Anlagenbau GmbH gründete ENERCON bereits 1997 in Magdeburg das Unternehmen SAM Stahlturm- und Apparatebau Magdeburg GmbH und später die Windgeneratorenfertigung Magdeburg GmbH sowie die Rotorblattfertigung Magdeburg GmbH. ENERCON startete die Entwicklung eines dritten Bereichs in Magdeburg-Rothensee im Jahr 2000. Dort hat im Jahr 2014 auch ein vierter Bereich, der ebenfalls Teile für Windkraftanlagen herstellt, den Betrieb aufgenommen. Zwei weitere ENERCON-Produktionsbetriebe wurden Anfang 2015 in Magdeburg am Standort Industriestraße, mit einem entsprechenden Flächenangebot für Produktion und Logistik, eingeweiht: die Magdeburger Komponentenfertigung GmbH (MKF) und die Magdeburger Generatorenfertigung GmbH (MGF).
Beschäftigung
Die SKET Schwermaschinenbau Magdeburg GmbH (SKET SMM) hatte im Juni 1990 rund 12 600 Beschäftigte. Ende 1990 waren es 10 168, Mitte 1993 noch 3 552. Von den zwischen Ende 1990 und Mitte 1993 aus dem Stammpersonal ausgeschiedenen 6 616 Beschäftigten gingen 2 397 in Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung, 1 205 in den Altersübergang, 1 070 in eine Gemeinnützige Gesellschaft für Innovation, Sanierung und Entsorgung mbH, 243 konnten auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden und 143 fanden im Rahmen von ausgegliederten oder verselbstständigten Aktivitäten eine Beschäftigung. Weitere Personen schieden durch übliche Fluktuation, Vorruhestand oder Ruhestand oder mit Abfindungen im Rahmen von Sozialplanregelungen aus. Kurz nach der Gesamtvollstreckung standen bei SKET laut einem Pressebericht noch 1 500 Beschäftigte auf der Gehaltsliste, in einem Pressebeitrag vom April 1998 wurden noch 683 bei den SKET-Nachfolgern genannt. Der Arbeitsplatzzuwachs in den ENERCON-Betrieben in Magdeburg wurde Anfang 2015 auf 4 700 Arbeitsplätze seit 1998 beziffert.
Regionale Umgebung, überregionaler Status und Forschung und Entwicklung
Magdeburg ist der Standort nicht nur der SKET-Nachfolger. Im Maschinen- und Anlagenbau sind in der Region nach Angaben der Stadtverwaltung rund 60 Unternehmen mit ungefähr 11 000 Beschäftigten tätig. ENERCON hat in Magdeburg 15 Unternehmen (Stand 2014). Die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (OvGU), die Hochschule Magdeburg-Stendal und das Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF bieten für Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus entsprechende Ausbildungs- und Forschungskapazitäten. So gehört zum Forschungsprofil des Instituts für Mikro- und Sensorsysteme der OvGU auch die Entwicklung von Sensoren, die in Windkraftanlagen eingesetzt werden. Magdeburg verfügt über einen Anteil von Beschäftigten mit dem Anforderungsniveau Fachkraft und von solchen mit dem Anforderungsniveau Experte oder Spezialist, der über den ost- und westdeutschen Durchschnittswerten liegt. Bei IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen steht Magdeburg allerdings ungünstiger da, als es in Westdeutschland im Durchschnitt der Fall ist (vgl. Abbildung).
Der Forschungs- und Entwicklungsbereich des Unternehmens ENERCON ist in Aurich (Niedersachsen) ansässig. Gleichwohl findet in den Magdeburger ENERCON-Produktionsstätten Prozessinnovation statt, etwa durch Einführung moderner Bearbeitungsverfahren für Großbauteile von Windenergieanlagen. Bei den anderen SKET-Nachfolgern des Maschinen- und Anlagenbaus und auch im IT-Bereich werden Entwicklungsarbeiten durchgeführt, um kundenspezifische Lösungen zu erbringen.
Das Beispiel der SKET-Privatisierung zeigt, dass Strukturwandel mitunter einen sehr langen Atem braucht. Die Nachfrage nach Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien, hier der Windenergie, spielte den Magdeburger Schwermaschinenbauern in die Hände. Allerdings kennt der Strukturwandel keinen Stillstand. Windenergieanlagen-Hersteller stehen weltweit vor Entscheidungen, welche Komponenten im eigenen Unternehmen gefertigt und bei welchen die Fertigung im Interesse von Flexibilität und Kostenreduzierung in andere Unternehmen verlagert werden. Beides – Eigenfertigung und Outsourcing – hat nach Experteneinschätzung Vor- und Nachteile. Fertigung am Schwermaschinenbaustandort Magdeburg erfordert, die Ausstattung mit entsprechenden Fachkräften auch in Zukunft zu sichern – was unter den Bedingungen des demographischen Wandels eine große Herausforderung darstellen wird.