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Ostdeutscher Produktivitätsrückstand und Betriebsgröße

Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft um 20% geringer als die der westdeutschen. Vielfach wird dies dadurch erklärt, dass westdeutsche Betriebe größer sind – denn größere Betriebe sind meist produktiver. Berechnungen auf Basis einzelbetrieblicher Daten bringen jedoch zum Vorschein, dass die Produktivitätslücke sich selbst dann nicht schließt, wenn Betriebe ähnlicher Größe verglichen werden, die zudem noch der gleichen Branche angehören und Ähnlichkeiten in weiteren für die Produktivität relevanten Merkmalen wie der Kapitalintensität, der Exporttätigkeit und dem Anteil qualifizierten Personals aufweisen.

18. Dezember 2019

Autoren Steffen Müller Georg Neuschäffer

Wird das Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigen als Produktivitätsmaß verwendet, zeigt die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), dass die Produktivität in Ostdeutschland bei etwa 82% des Westniveaus liegt. Zum einen ist das Ausdruck eines beispiellosen Aufholprozesses, denn der Osten startete 1991 bei etwa 45% der westdeutschen Produktivität. Zum anderen besteht nach wie vor die öffentliche Erwartungshaltung, dass sich ein Erfolg der Vereinigung in einer vollständigen Angleichung im Hinblick auf Produktivität und Lebensstandard zeigen müsse. Entsprechend intensiv wurde die Produktivitätslücke in der Forschung untersucht. Ein wichtiger Befund früherer Studien ist, dass die Hauptursache nicht in verschieden guter Ausstattung der Regionen mit den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu suchen ist, sondern dass Unterschiede in der totalen Faktorproduktivität – also der Nutzung der Produktionsfaktoren – verantwortlich für den ostdeutschen Rückstand sind.

Westdeutsche Großbetriebe sind viel größer als ostdeutsche

Ein vieldiskutierter struktureller Unterschied zwischen Ost und West lässt sich im Hinblick auf Betriebsgrößenunterschiede feststellen. Während die Aufteilung der Betriebe auf Größenklassen in Ost und West ähnlich ist (vgl. Abbildung 1), ist die Aufteilung der Beschäftigten auf die Größenklassen stark unterschiedlich (vgl. Abbildung 2). Dies deutet vor allem darauf hin, dass westdeutsche Großbetriebe sehr viel größer sind als ostdeutsche Großbetriebe. Die ökonomische Aktivität ist in Westdeutschland somit in wesentlich stärkerem Maße von Großbetrieben geprägt als im Osten.

Eine Erklärung für die Produktivitätslücke: Großbetriebe sind produktiver

Der Größenaspekt ist von besonderer Bedeutung, weil zahlreiche, auch internationale Befunde zeigen, dass größere Betriebe produktiver sind. Dies kann theoretisch beispielsweise erklärt werden durch:

i) das Vorhandensein von strategischen Unternehmensfunktionen,

ii) Fixkostendegression und steigende Skalenerträge,

iii) Diversifizierungsvorteile und geringere Anfälligkeit für Nachfrageschwankungen sowie

iv) höhere Marktmacht auf Produkt- und/oder Faktormärkten.

Empirisch lässt sich das Größengefälle in der Produktivität in Deutschland leicht nachweisen. Abbildung 3 zeigt, dass die Arbeitsproduktivität gemessen als Bruttowertschöpfung pro Mitarbeitenden mit der Betriebsgröße deutlich ansteigt. Die Arbeitsproduktivität – konzeptionell ähnlich zum im Aggregat verwendeten Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigen – liegt in Großbetrieben mehr als 80% über der in Kleinbetrieben.1

Dass in Westdeutschland wesentlich mehr Menschen in größeren Betrieben arbeiten, könnte also bereits einen Teil des Produktivitätsrückstands des Ostens erklären. Würde der ostdeutsche Rückstand gar verschwinden, wenn der Osten die gleiche Betriebsgrößenstruktur wie der Westen aufwiese?

Aber: Selbst beim Vergleich ähnlich großer Betriebe bleibt der Rückstand Ostdeutschlands bestehen

Ein erster Test dieser Hypothese ist ein Produktivitätsvergleich innerhalb von Gruppen von Betrieben gleicher Größe. Würde die Hypothese zutreffen, müsste der Unterschied innerhalb ähnlich großer Betriebe klein beziehungsweise vollständig verschwunden sein. Ein erster Vergleich (vgl. Abbildung 4) zeigt jedoch, dass ostdeutsche Betriebe gleicher Größe weniger produktiv als ihre westdeutschen Wettbewerber sind.

Nun kann die Frage gestellt werden, ob sich die Produktivitätsunterschiede innerhalb der gleichen Größenklasse auf Unterschiede in den betrieblichen Merkmalen zurückführen lassen. Unterscheiden sich ostdeutsche Betriebe innerhalb einer bestimmten Größenklasse also systematisch in bestimmten für die Produktivität relevanten Merkmalen von ähnlich großen westdeutschen Betrieben? Um diese Frage zu beantworten, werden Mikrodaten auf Betriebsebene benötigt. Während viele Studien aggregierte Zahlen verwenden, sind Untersuchungen auf Basis von Firmen- und Betriebsdaten seltener.

Sind andere betriebliche Merkmale entscheidend? Produktivitätsschätzung auf Betriebsebene

Auf Basis der Betriebsdaten des IAB-Betriebspanels wird in der Folge eine um verschiedene betriebliche Merkmale erweiterte Cobb-Douglas-Produktionsfunktion separat für die drei bereits in den Abbildungen verwendeten Betriebsgrößenklassen geschätzt.2 Dabei wird für etwa 10 000 Beobachtungen aus den Jahren 2013 bis 2016 (eine Beobachtung entspricht dabei einem Betrieb in einem bestimmten Jahr) die logarithmierte Bruttowertschöpfung pro Mitarbeitenden (die Arbeitsproduktivität als die zu erklärende Variable) auf die logarithmierte Kapitalintensität (Kapitalstock pro Mitarbeitenden3) regressiert. Die Kapitalintensität wird also als die wesentliche erklärende Variable für Produktivitätsunterschiede ähnlich großer Betriebe angenommen. Zusätzlich werden weitere wichtige betriebliche Merkmale als mögliche erklärende Variablen einbezogen: die Branchenzugehörigkeit, der Anteil qualifizierter Beschäftigter, Teilzeitbeschäftigter und Auszubildender, der technologische Stand der Anlagen, die Existenz von Betriebsrat und Tarifvertragsbindung, Exporttätigkeit sowie die hierarchische Stellung des Betriebs im Unternehmensverbund.4 Schließlich wird eine Indikatorvariable „Ostdeutschland“ einbezogen, die den Sitz des Betriebs in West- oder Ostdeutschland angibt. Das Hauptinteresse liegt dabei auf dem Koeffizienten dieser Indikatorvariable. Der Koeffizient approximiert den prozentualen Unterschied in der Produktivität. Die zentralen Ergebnisse der Schätzung sind in der Tabelle zusammengefasst.

Ergebnisse und Interpretation

Die Regression zeigt generell plausible Ergebnisse, so sind beispielsweise Betriebe mit einem höheren Anteil qualifizierter Beschäftigter, höherer Kapitalintensität und moderneren Maschinen produktiver. Auch der häufig gefundene Produktivitätsbonus von Betrieben mit Betriebsrat und von Exporteuren wird bestätigt. Entscheidend für diese Untersuchung ist jedoch, dass die Indikatorvariable für ostdeutsche Betriebe ein negatives Vorzeichen hat. Sie zeigt an, dass ostdeutsche Betriebe ceteris paribus, d. h. unter Berücksichtigung von Unterschieden in der Branchenstruktur und den anderen in der Tabelle gelisteten betrieblichen Merkmalen, weniger Wertschöpfung pro Mitarbeitenden generieren als westdeutsche Betriebe. Der Rückstand beträgt etwa 20% und, das ist das Neue an der Studie, dies gilt innerhalb aller drei Größenklassen gleichermaßen. Dieser Befund zeigt, dass der ostdeutsche Rückstand nicht ausschließlich durch Unterschiede in der Betriebsgröße erklärt werden kann, aber er bedeutet auch nicht, dass Ostdeutsche weniger talentiert oder motiviert wären. Interessant ist, dass die Ost-West-Lücke bei den Kleinbetrieben deskriptiv (vgl. Abbildung 4) kleiner ist als in der multivariaten Untersuchung (vgl. Tabelle). Das bedeutet, dass die in der Regression berücksichtigten betrieblichen Merkmale ostdeutscher Betriebe dieser Größenklasse günstiger ausfallen als die westdeutscher Betriebe. Für die mittleren und großen Betriebe ist es genau andersherum. Eine mögliche, aber in dieser Studie nicht überprüfbare Erklärung für die geringere Produktivität ostdeutscher Betriebe selbst nach Berücksichtigung betrieblicher Merkmale wäre, dass ostdeutsche Betriebe zwar die gleiche physische Produktivität haben (Anzahl produzierter Güter pro Inputeinheit), aber diese Erzeugnisse – zum Beispiel aufgrund fehlender Markennamen – zu einem niedrigeren Preis verkaufen müssen. Denkbar sind auch Unterschiede in den Preisen für Vorleistungsgüter, zum Beispiel dann, wenn westdeutsche Betriebe in der Lage wären, Vorleistungsgüter billiger zu beziehen. Die Befunde in diesem Kurzbericht sollten somit als Ausgangspunkt für künftige Forschung zum besseren Verständnis für die Ursachen des Rückstands der ostdeutschen Produktivität verstanden werden.

Endnoten

1 Der Unterschied zwischen beiden Produktivitätsmaßen besteht zum einen darin, dass in der VGR auf Personenebene und in Abbildung 3 auf Betriebsebene gemessen wird und dass die Datengrundlage für die Betriebsdaten, das IAB-Betriebspanel, nur für Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten repräsentativ ist, während in die VGR beim Erwerbstätigenkonzept zum Beispiel auch Solo-Selbstständige eingehen. Die VGR ist auch im Arbeitnehmerkonzept verfügbar, unterscheidet sich aber auch dann von der Erfassung im IAB-Betriebspanel, weil in letzterem auch tätige Unternehmenseigentümer und mithelfende Familienangehörige in der Pro-Kopf-Berechnung berücksichtigt werden. Eine direkte Umrechnung zwischen beiden Messkonzepten ist somit nicht möglich.

2 Die Schätzung einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ist der Standardansatz zur Ermittlung von betrieblichen Produktivitätsunterschieden. Kompliziertere Produktionsfunktionen (z. B. CES, Translog) ergeben in der Regel ähnliche Ergebnisse für den Ost- West-Produktivitätsunterschied.

3 Die Methodik zur Berechnung des Kapitalstocks wird beschrieben in: Müller, S.: Capital Stock Approximation Using Firm Level Panel Data, in: Journal of Economics and Statistics, Vol. 228 (4), 2008, 357–371.

4 Ausgeschlossen wurden Sektoren, die (i) zwar privatwirtschaftlich, aber aufgrund intensiver Subventionierung nur eingeschränkt wettbewerblich organisiert sind (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei; Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden), für die (ii) entweder Umsatz (Finanz- und Versicherungsdienstleistungen) oder Kapitalstock (Grundstücks- und Wohnungswesen) nicht der zugrundeliegenden produktionstheoretischen Konzeption entsprechen und die (iii) teilweise oder vollständig staatlich gelenkt sind (Energieund Wasserversorgung; Erziehung und Unterricht; Gesundheits- und Sozialwesen; Organisationen ohne Erwerbscharakter, Öffentliche Verwaltung).

Außerdem in diesem Heft

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Kommentar: Freihandel, Protektionismus und das stabile Genie

Reint E. Gropp

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2019

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Protektionismus ist schlecht, aber vielleicht nicht ganz so schlecht, wie ihn viele Leute machen. Zölle sind kurzfristig nichts anderes als Umverteilung: von vielen Konsumenten zu einigen wenigen inländischen Produzenten und deren Mitarbeitern. Denken Sie zum Beispiel an Zölle auf Stahl: Die Konsumenten leiden, weil Autos, Maschinen und alles, wofür es sonst noch Stahl braucht, teurer wird. Allerdings profitieren die im Vergleich zu den ausländischen Wettbewerbern ineffizienteren inländischen Stahlhersteller.

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Zur Wirtschaftskraft deutscher Regionen aus langfristiger Perspektive: Alte Muster werden in Ostdeutschland langsam wieder sichtbar

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in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2019

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Kann der Osten Deutschlands in Zukunft noch wesentlich aufholen, oder haben die 40 Jahre Zentralplanwirtschaft dauerhafte Spuren in der Raumstruktur der deutschen Volkswirtschaft hinterlassen? Dieser Beitrag vergleicht die Raumstruktur der deutschen Volkswirtschaft im Jahr 1925, vor den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts, mit ihrer Entwicklung nach der Vereinigung. Es zeigen sich folgende Punkte: Gewinner der historischen Umbrüche war eher Süd- als Westdeutschland. Berlin konnte sein Hauptstadt-Potenzial lange nicht ausspielen, beginnt dies aber nun nachzuholen. Die Wirtschaftskraft ostdeutscher Flächenländer war 1925 breit gestreut und dabei teils höher, teils niedriger als die Deutschlands. Seit 1990 ist sie dagegen viel niedriger als im gesamtdeutschen Durchschnitt und liegt eng beieinander. Zwar holten die ostdeutschen Flächenländer in den Jahren nach 1990 zügig auf, nach dem Jahr 2000 aber nur noch langsam. Die Streuung nimmt erst seit 2010 wieder ein wenig zu. Aus historischer Perspektive sehen manche Tendenzen, etwa der Berlin-Boom und die höhere Wachstumsdynamik in Sachsen, wie eine Normalisierung aus, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit fortsetzen dürfte.

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