Warum gibt es aktuell so hohe Insolvenzzahlen?

Der IWH-Insolvenztrend zeigt für den Monat Dezember 2024 weiterhin sehr viele Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften. Wir sprechen dazu mit dem Leiter der Insolvenzstelle des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Professor Dr. Steffen Müller.

Herr Professor Müller, am 9. Januar 2025 haben Sie für den Monat Dezember 2024 berichtet, dass es hier 1.340 Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften in Deutschland gab. Wie sind diese Zahlen einzuordnen?

Professor Dr. Steffen Müller: Die aktuellen Fallzahlen der Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften sind schon sehr hoch im Zeitvergleich. Einerseits im Vergleich mit dem Vorjahr: Aktuell haben wir knapp ein Viertel mehr Insolventen als im Dezember 2023. Andererseits im Vergleich mit einem durchschnittlichen Dezember der Jahre 2016 bis 2019, also vor der Corona-Pandemie: Gegenüber diesen gibt es jetzt sogar 54 Prozent mehr Insolvenzen. Das sind alles hohe Werte, die sich seit vielen Monaten aufgebaut haben und die keine Ausreißer sind.

Was sind die Hauptgründe für diese Entwicklung?

Die aktuell hohen Insolvenzzahlen in Deutschland resultieren sowohl aus Nachholeffekten als auch aus der aktuellen konjunkturellen Lage. Die Nachholeffekte sind erstens auf die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank nach der Finanzkrise 2009 zurückzuführen. Schwankte der Leitzins seit Anfang der 2000er Jahre zwischen 2 und 4,75 Prozent, senkte die EZB den Leitzins zwischen 2009 und 2022 auf 1,5 bis Null Prozent. Unternehmen konnten dadurch sehr günstig Kredite erhalten. Mit Mitte 2022 ist der Leitzins nun wieder deutlich auf ein Niveau gestiegen, wie wir es vor der Finanzkrise hatten. Das macht Kredite teurer und wir beobachten eine Reihe von Unternehmen, die hierdurch in deutliche Schwierigkeiten gekommen sind.

Zweitens sind die aktuellen Nachholeffekte auf die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen während der Pandemie zurückzuführen. Hier gab es temporäre Änderungen am Insolvenzrecht, Änderungen am Kurzarbeitergeld und finanzielle Stützungsmaßnahmen des Staates. All dies ist nach Ende der Pandemie weggefallen und hat Auswirkungen auf die finanzielle Stabilität mancher Unternehmen.  Beide Faktoren – die Niedrigzinsphase und die Unterstützungsmaßnahmen in der Pandemie – haben zwar vielen Unternehmen geholfen. Sie haben aber auch Insolvenzen verzögert. Diese verzögerten Insolvenzen treten nun zutage, auch weil die derzeit schwierige Wirtschaftslage zudem noch zu erheblichen Kostensteigerungen führt, beispielsweise bei den Löhnen.

Das klingt nach zwei externen Schocks. Dennoch muss man fragen, ob hier auch Regierungshandeln eine Rolle spielte. 

Es lässt sich schwer bestimmen, welchen Anteil hier das Regierungshandeln hatte. Manches wurde sicher richtig gemacht. Ein klarer Fehler der Ampelregierung war jedoch, dass es ihr nicht gelang, der Wirtschaft eine eindeutige Richtung und eine konsistente wirtschaftspolitische Linie vorzugeben. Dies verunsichert Unternehmen und hemmt Investitionsentscheidungen. Bereits in der Ära Merkel blieben viele notwendige öffentliche Infrastrukturinvestitionen aus. Zudem haben weder die Merkel-Regierung noch die Ampel eine nachhaltige und zukunftsfähige Finanzierung des Rentensystems etabliert. Dies kann in der Folge zu steigenden Sozialversicherungsbeiträgen oder höheren Steuerzuschüssen für die Rentenkassen führen.

Blicken wir auf die Standortfaktoren: Welchen Einfluss haben diese auf die Insolvenzen? 

Deutschland steht insbesondere im Bereich seiner Kernindustrie – der Automobilwirtschaft – unter Druck. Dort findet ein technologischer Strukturwandel statt, der naturgemäß mit Anpassungskosten und Unsicherheiten verbunden ist. Dieser Wandel hat bereits eine Reihe von Automobilzulieferern in die Insolvenz geführt. Viele Automobilhersteller haben mit rückläufigen Gewinnen und Absatzproblemen zu kämpfen. Dennoch halte ich die Standortfaktoren weiterhin für vorteilhaft, insbesondere im Hinblick auf das Know-how der Beschäftigten, das Rechtssystem und die allgemeine Stabilität.

Kurz- bis mittelfristig gibt es jedoch Nachholbedarf bei der Steuer- und Abgabenlast, der Bürokratie sowie der öffentlichen Infrastruktur. Die gute Nachricht ist, dass diese Themen lösbar sind. Die schlechte Nachricht ist, dass hierfür tatsächlich echte Anstrengungen nötig sind. Eine Wirtschaftspolitik wie bisher sollte sich Deutschland nicht mehr leisten. Mittel- bis langfristig wird die Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich davon abhängen, dass Deutschland weiterhin über eine gut ausgebildete Bevölkerung verfügt. Deshalb sind jetzt verstärkte öffentliche Investitionen in frühkindliche Bildung, Schulen und Universitäten von entscheidender Bedeutung.

Um mehr Wirtschaftsleistung zu erreichen, könnte man auch das Gründungsklima verbessern. Jüngst jedoch gab es eher Nachrichten von Insolvenzen junger Tech-Unternehmen. Ist es eigentlich momentan besonders schwierig, in Deutschland erfolgreich unternehmerisch tätig zu sein? 

Tatsächlich ist es in Deutschland schon seit Langem schwierig, ein neues Unternehmen zu gründen. Dies wird eindrücklich durch den „Doing Business“-Indikator der Weltbank belegt, wo Deutschland in dieser Kategorie auf Platz 125 weltweit liegt. Folgerichtig sind die Gründungszahlen extrem niedrig und sinken seit über 20 Jahren strukturell weiter. Über alle ökonomische Kategorien liegt Deutschland auf einem guten 22. Platz, womit man sich natürlich nicht zufriedengeben sollte.

Kommen wir zurück zu den aktuellen Insolvenzzahlen: Was sollte die Politik jetzt tun, damit die Zahl der Insolvenzen in Deutschland wieder gesenkt werden kann?

Die Senkung der Insolvenzzahlen an sich ist kein sinnvolles politisches Ziel. Es ist nicht die Aufgabe der Politik, schwache Unternehmen zu retten. Das Ausscheiden unproduktiver Unternehmen gehört zur Marktwirtschaft und ist entscheidend für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.

Unternehmen bilden den Rahmen, um Wohlstand zu erzeugen. Während einige Unternehmen darin sehr erfolgreich sind, gelingt es anderen weniger. Letztere müssen Platz machen, damit ihre Ressourcen von zukunftsfähigen Unternehmen genutzt werden können. Bei diesen Übergängen kann und sollte man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen – nicht jedoch Unternehmen künstlich am Leben halten.

Das Interview führte Wolfgang Sender. 

 

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Zur PersonProf. Dr. Steffen Müller

Prof. Dr. Steffen Müller

Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität sowie Leiter der Insolvenzforschung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)


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