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Erinnerung an soziale Isolation des Lockdowns macht Menschen egoistischer

Nachdem Teilnehmer eines Online-Experiments an die soziale Isolierung des Lockdowns erinnert wurden, verhielten sich diese egoistischer als eine neutrale Vergleichsgruppe. Allerdings beurteilten Teilnehmer eines weiteren Experiments, die ebenfalls an die soziale Isolation im Lockdown erinnert wurden, ein solches egoistisches Verhalten als prinzipiell sozial unangemessen. Daraus lässt sich schließen, dass lediglich die Neigung zur Befolgung sozialer Normen, welche menschliches Verhalten in den verschiedensten Lebenssituationen maßgeblich beeinflussen, durch die soziale Distanzierung gesunken ist. Auch für eine Zeit nach der Bewältigung der Corona-Pandemie werfen diese Ergebnisse Fragen auf: Wie lässt sich in einer digitalisierten Welt, in der persönliche Interaktionen immer seltener werden, die Bereitschaft zur Einhaltung sozialer Normen aufrechterhalten?

17. November 2021

Autoren Sabrina Jeworrek Joschka Waibel

Soziale Distanzierung ist ein wirksames Mittel, um der Ausbreitung von COVID-19 entgegenzuwirken.* Es gibt bereits zahlreiche Forschungsarbeiten, die untersuchen, warum sich Individuen (freiwillig) an die Regeln sozialer Distanzierung halten. Auf Grundlage einer Stichprobe von ca. 90 000 Personen aus 39 Ländern zeigen Ludeke et al., dass lokale soziale Normen zuverlässig soziales Distanzierungsverhalten prognostizieren: Je größer der wahrgenommene Konsens über die Wichtigkeit von sozialer Distanzierung in einer Region war, desto mehr Menschen hielten sich an die Regeln.1 Dahingegen wurde die Frage, ob soziale Distanzierung wiederum entweder die Wahrnehmung sozialer Normen oder deren Einhaltung beeinflusst, bislang noch nicht beantwortet.

Im Rahmen von zwei Online-Experimenten mit über 500 Studierenden deutscher Universitäten untersuchten wir mit Hilfe der so genannten Priming-Methode,2 wie sich die Erfahrung sozialer Isolation auf Normvorstellungen sowie deren Befolgung auswirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass die persönliche Einschätzung, welches Verhalten in einer Situation angemessen ist, in der sich Menschen sowohl prosozial als auch egoistisch verhalten können, durch die Erfahrung sozialer Isolation nicht beeinflusst wird. Die Bereitschaft zur tatsächlichen Einhaltung der sozialen Norm, sich nicht egoistisch zu verhalten, hat allerdings signifikant abgenommen.

Das Forschungsdesign

In beiden Experimenten wurden die Teilnehmenden zufällig verschiedenen Gruppen zugeteilt. In der so genannten Prime-Gruppe beantworteten die Teilnehmenden zunächst Fragen zu ihrem Verhalten sowie zu ihren persönlichen Erfahrungen und Gefühlen in der Zeit des bundesweiten Lockdowns in Deutschland (November 2020 bis April 2021). Der Kontrollgruppe (genannt NoPrime) wurden im Gegensatz dazu neutrale Fragen zu soziodemographischen Daten und Persönlichkeitsmerkmalen gestellt. Anschließend wurde allen Teilnehmenden ein ökonomisches Entscheidungsproblem dargelegt:

Eine Person und eine Wohltätigkeitsorganisation erhalten jeweils den gleichen Geldbetrag (fünf Euro). Die Person hat aber die Möglichkeit, diese gleiche Aufteilung aufzuheben, indem sie einen Teil oder den gesamten eigenen Geldbetrag an die Wohltätigkeitsorganisation weitergibt. Die Person könnte aber ebenso einen Teil oder sogar die gesamte Spende an die Wohltätigkeitsorganisation selbst einbehalten, sodass diese im letzteren Fall leer ausgehen und die Person die vollen zehn Euro erhalten würde.

Im ersten Experiment mussten die Teilnehmenden nach der von Krupka und Weber beschriebenen anreizorientierten Methode3 die soziale Angemessenheit aller Aufteilungsoptionen in der vorliegenden Situation beurteilen. Die Ergebnisse wiesen keinen Unterschied in der normativen Bewertung zwischen der Prime- und der NoPrime-Gruppe auf: Der Wohltätigkeitsorganisation Geld wegzunehmen wurde gleichermaßen als sozial unangemessen bewertet.

Egoistischeres Verhalten bei Personen, die an den Lockdown erinnert wurden

Um herauszufinden, ob sich die persönliche Bereitschaft zur Einhaltung dieser sozialen Norm durch die soziale Distanzierungserfahrung verändert hat, wurde ein zweites Experiment mit einer neuen Stichprobe von Studierenden durchgeführt. Diesmal mussten die Teilnehmenden das Geld tatsächlich zwischen sich und der Wohltätigkeitsorganisation aufteilen. Dabei verhielt sich nahezu die Hälfte der Teilnehmenden entgegen der sozialen Norm und bediente sich am Budget der Wohltätigkeitsorganisation. Mit einem einbehaltenen Betrag von durchschnittlich 3,81 Euro wurde der Wohltätigkeitsorganisation nicht viel übriggelassen. Darüber hinaus zeigte sich diesmal aber ein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen. Personen, bei denen vor der Aufteilungsentscheidung eigene Erinnerungen an die soziale Isolation aktiviert worden waren und die angegeben hatten, sich während des Lockdowns einsam gefühlt zu haben, nahmen mehr Geld von der Wohltätigkeitsorganisation als Teilnehmende ohne vorheriges Priming.

Unsere Untersuchungen zeigen aber auch, dass der negative Effekt der sozialen Isolation abgemildert werden kann. Wir nutzten die Ergebnisse einer Studie basierend auf demselben Entscheidungsproblem,4 um sowohl die empirischen Erwartungen, wie sich andere Teilnehmende verhalten, als auch die normativen Erwartungen, welches Verhalten andere in einer ähnlichen Situation gutheißen, zu manipulieren. Hierbei erhielt eine Gruppe (genannt PrimeNormative) vor der Allokationsentscheidung die Information, dass Teilnehmende einer kürzlich veröffentlichten Studie in einer vergleichbaren Entscheidungssituation angaben, dass es sozial angemessen sei, die gleichmäßige Aufteilung beizubehalten oder von dem persönlichen Geld einen Teil oder den gesamten Betrag an die Wohltätigkeitsorganisation abzugeben. Die Prime Empirical-Gruppe erfuhr hingegen, dass sich die Mehrheit der Teilnehmenden innerhalb der besagten Studie tatsächlich auch dazu entschieden hatte, die Gleichverteilung beizubehalten oder vom persönlichen Geld einen Teil oder den gesamten Betrag an die Wohltätigkeitsorganisation abzugeben. In diesen beiden Informationsgruppen konnten wir eine Reduktion des durchschnittlichen von der Wohltätigkeitsorganisation weggenommenen Betrags beobachten.

Verhaltensänderungen könnten langfristig bestehen bleiben

Die Studie offenbart einen kausalen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen sozialen Isolation, die in der Zeit der Pandemie erlebt wurde, und egoistischem Verhalten in einer zwar experimentellen Allokationssituation, aber mit realen Auszahlungen. Es ist wichtig zu beachten, dass beide Experimente Ende Mai 2021 stattfanden, in einer Region mit schnell sinkenden COVID-19-Inzidenzen und der vorzeitigen Aufhebung der Bundesnotbremse.5 Selbst nach der Lockerung der sozialen Distanzierungsregeln und der Wiedereröffnung von Geschäften, Restaurants und ersten kulturellen Stätten sowie dem damit einhergehenden Optimismus fanden wir einen negativen Effekt der sozialen Isolierung auf prosoziales Verhalten. Dies deutet darauf hin, dass die vorliegenden Verhaltensveränderungen längerfristig bestehen bleiben könnten.

Positiv betrachtet bleiben allerdings selbst nach einer langfristigen sozialen Isolation von etwa einem halben Jahr die grundlegenden Normen verinnerlicht. Zwar nimmt normverletzendes Verhalten zu, es wird aber weiterhin als sozial unangemessen betrachtet. Die vorliegende Studie unterstreicht zudem den Stellenwert, den das Herausstellen von vorbild- lichem Verhalten ‒ wie beispielsweise ehrenamtlicher Arbeit ‒ haben könnte. Die weniger offensichtlichen Verhaltensschäden, die durch soziale Distanzierung in Krisenzeiten verursacht werden, könnten somit abgefedert werden. Allerdings dürfte dies nur gelingen, solange die Abnahme der Bereitschaft zur Einhaltung sozialer Normen noch nicht weitreichend wahrnehmbar ist. Bicchieri et al. haben beispielsweise nachgewiesen, dass beobachtete Normverstöße einen viel stärkeren Effekt auf die individuelle Regelbefolgungsbereitschaft haben als die beobachtete Einhaltung von Normen.6 Mit anderen Worten: Wenn Menschen beobachten, dass andere die Regeln brechen, sind sie eher bereit, sie selbst ebenso zu brechen.

Natürlich stellt der Lockdown eine absolute Ausnahmesituation dar, nichtsdestotrotz sollten unsere Ergebnisse auch in einer Welt nach der Corona-Krise nicht an Relevanz verlieren. Da soziale Interaktionen zunehmend durch die Digitalisierung geprägt werden, ist es wahrscheinlich, dass sich persönliche Interaktionen auf einem niedrigeren Niveau als vor der Pandemie einpendeln werden. Die tägliche Zeit, die beispielsweise in sozialen Netzwerken verbracht wurde, ist auch ohne Pandemie von 90 Minuten im Jahr 2012 auf 145 Minuten im Jahr 2019 gestiegen.7 Ebenso werden die vielerorts eingeführten Home-Office-Regelungen nicht wieder gänzlich verschwinden. Verschiedene Firmen, unter anderem das Softwareunternehmen SAP, haben ihren Mitarbeitenden bereits angekündigt, den Arbeitsort künftig frei bestimmen zu können.8

Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere gesellschaftliche Normen

Künftig müsste man selbstverständlich noch der Frage nachgehen, inwiefern unsere Ergebnisse auf andere Normen, wie beispielsweise die der bedingten Kooperation, übertragbar sind. Kimbrough und Vostroknutov haben aber beobachtet, dass sich die Präferenz für die Befolgung von Normen von einem Kontext auf einen anderen, nicht verwandten Kontext überträgt,9 was durch unsere eigenen Daten gestützt wird: Die Teilnehmenden, die angegeben hatten, sich weitestgehend an die sozialen Distanzierungsregeln zu halten, nahmen der Wohltätigkeitsorganisation durchschnittlich ungefähr 1,30 Euro weniger weg als diejenigen, denen die Distanzierungsregeln weniger befolgungswürdig erschienen. Ähnliches finden auch Müller und Rau, in deren Umfragedaten sozial verantwortliches Verhalten vor der Pandemie positiv mit der Einhaltung der Distanzierungsregeln korreliert.10 Daher ist die Übertragbarkeit unserer Ergebnisse auf andere Rahmenbedingungen und Normen durchaus denkbar.

Noch wichtiger wäre dementsprechend wohl zu untersuchen, wie viel persönliche Interaktion notwendig ist, um die drohenden Verhaltensschäden durch (wahrgenommene) soziale Isolation zu verhindern. Selbst kleinere Normverstöße könnten sich zu einem signifikanten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schaden aufsummieren, wenn man bedenkt, in wie vielen verschiedenen Bereichen soziale Normen unser alltägliches Verhalten beeinflussen. Guiso et al. argumentieren sogar, dass informelle Regeln (also unter anderem auch soziale Normen) für den nationalen Wohlstand mindestens genauso wichtig sind wie formale Regeln und Gesetze.11

Endnoten

* Der vorliegende Beitrag erschien ursprünglich im COVID-19-Blog der London School of Economics und auf dem Internetportal Ökonomenstimme der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Grundlage des Beitrags ist das IWH-Diskussionspapier 8/2021 Alone at Home: The Impact of Social Distancing on Norm-consistent Behavior.

1 Vgl. Ludeke, S. G.; Vitriol, J. A.; Larsen, E. G.; Gensowski, M.: Personality in a Pandemic: Social Norms Moderate Associations Between Personality and Social Distancing Behaviors, in: Personality and Individual Differences, Vol. 177 (July), 2021, 110828.

2 Cohn, A.; Maréchal, M. A.: Priming in Economics, in: Current Opinion in Psychology, Vol. 12 (December), 2016, 17−21, liefern eine Übersicht über die Verwendung der Methode in den Wirtschaftswissenschaften.

3 Vgl. Krupka, E. L.; Weber, R. A.: Identifying Social Norms Using Coordination Games: Why Does Dictator Game Sharing Vary?, in: Journal of the European Economic Association, Vol. 11 (3), 2013, 495−525.

4 Vgl. Bicchieri, C.; Dimant, E.; Gächter, S.; Nosenzo, D.: Social Proximity and the Erosion of Norm Compliance. IZA DP No. 13864, IZA Institute of Labor Economics 2020.

5 Als Bundesnotbremse werden die im Infektionsschutzgesetz festgelegten inzidenzabhängigen bundesweiten Kontakteinschränkungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie bezeichnet, vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/bundesweite-notbremse-1888982.

6 Vgl. Bicchieri, C. et al., a. a. O.

7 Statista: Daily Time Spent on Social Networking by Internet Users Worldwide from 2012 to 2020. Online unter https://www.statista.com/statistics/433871/daily-social-media-usage-worldwide/, Zugriff am 22.10.2021

8 Deutsche Welle: Working from Home: A New Status Symbol? Online unter https://www.dw.com/en/working-from-home-a-new-status-symbol/a-57797924, Zugriff am 22.10.2021.

9 Vgl. Kimbrough, E. O.; Vostroknutov, A.: Norms Make Preferences Social, in: Journal of the European Economic Association, Vol. 14 (3), 2016, 608–638.

10 Vgl. Müller, S.; Rau, H.: Economic Preferences and Compliance in the Social Stress Test of the Covid-19 Crisis, in: Journal of Public Economics, Vol. 194 (February), 2021, 104322.

11 Guiso, L.;, Sapienza, P.; Zingales, L.: Corporate Culture, Societal Culture, and Institutions, in: American Economic Review: Papers & Proceedings, Vol. 105 (5), 2015, 336−339.

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