Kommentar: Das Corona-Dilemma
Die Politik steht zurzeit vor einem scheinbar unlösbaren Dilemma. Einerseits sollen die Infektionszahlen niedrig gehalten werden: um die medizinische Infrastruktur nicht zu überfordern, und weil in Abwesenheit einer wirkungsvollen Behandlung Menschenleben gerettet werden sollen. Andererseits wäre aber die Ansteckung großer Teile der Bevölkerung (jünger als 60 Jahre und ohne Vorerkrankungen) vielleicht sogar erstrebenswert, weil die Symptome bei dieser Gruppe ohnehin kaum bis gar nicht wahrnehmbar sind und durch sie eine Herdenimmunität entstehen würde, die systematisch Infektionsketten unterbrechen könnte.
02. Juni 2020
Und zu Recht ist man besorgt, was eine Verlängerung der Maßnahmen wie Social Distancing, die Schließung von Restaurants und Hotels sowie andere Aspekte des Lockdowns für die Wirtschaft bedeuten würde. Schon jetzt, mit relativ optimistischen Annahmen die Erholung betreffend, prognostizieren wir, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um rund 10% einbricht und erst 2022 wieder das Niveau vom Februar 2020 erreicht hat, was der schwersten Rezession der Nachkriegszeit entspräche. Und selbst bei dieser Vorhersage unterstellen wir noch, dass die Maßnahmen nicht verlängert werden, dass es keine zweite Welle von Infektionen gibt und dass die Aufholeffekte schon im Herbst 2020 die Wirtschaft stark antreiben. Dabei sollte man nicht vergessen, dass dieser Einbruch trotz eines riesigen Pakets aus direkten Transferzahlungen an kleine Unternehmen, Kreditgarantien für mittlere und größere Unternehmen sowie einer deutlichen Erleichterung beim Beantragen von Hartz IV erfolgen wird. Wir schätzen, dass der Schuldenstand Deutschlands sich innerhalb weniger Monate von 60% auf 75% des Bruttoinlandsprodukts erhöhen wird. Solch einen rapiden Anstieg der Staatsschuldenquote hat es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben.
Auswege aus dem Dilemma führen über die Entwicklung einer wirkungsvollen Therapie, eine flächendeckende Impfung oder über flächendeckende Tests. Basierend auf den derzeit vorliegenden Informationen ist sowohl mit einer Therapie als auch einem Impfstoff erst in einigen Monaten zu rechnen, womöglich dauert es länger. In meinen Augen einfach zu lange, um bis dahin die Infektionen auf dem gegenwärtig niedrigen Stand zu halten. Die wirtschaftlichen Konsequenzen eines weiter andauernden Shutdowns wären dramatisch. Was es allerdings schon jetzt gibt, sind Tests. Diese auszuweiten wäre teuer, aber möglich und deutlich billiger, als ein weiteres Rettungspaket für die gesamte Wirtschaft aufzulegen. Mit flächendeckenden, regelmäßigen Tests, die die Menschen selbst anwenden, könnten große Teile der Bevölkerung wieder zur Arbeit gehen, Restaurants oder sogar Bars besuchen – es könnte schlichtweg wieder Normalität einkehren. Dabei spielt es in meinen Augen keine Rolle, ob man dabei auf Freiwilligkeit setzt, auf eine App, bei der das Ergebnis stichprobenartig kontrolliert würde, oder einen anderen Ansatz. Masken in der Öffentlichkeit wären überflüssig. Die Geisteratmosphäre, die wir gegenwärtig vor allem in den Städten beobachten, würde verschwinden, und das Konsumverhalten der Menschen könnte sich wieder normalisieren. Gleichzeitig müssten Risikogruppen systematisch identifiziert und isoliert werden. Die Lockdown-Maßnahmen würden nicht mehr undifferenziert alle Menschen betreffen, sondern eine relativ kleine Gruppe, die einem deutlich höheren Mortalitätsrisiko ausgesetzt ist.
Es ist gut nachvollziehbar und richtig, dass die Politik einem Menschenleben keinen ökonomischen Wert zumessen möchte und sich weigert, den wirtschaftlichen Wohlstand der Gesellschaft gegen Todesfälle aufgrund des Virus aufzurechnen. Trotzdem ist der gegenwärtige Weg nicht nachhaltig. Politiker sollten nicht einseitig auf Infektionszahlen schauen, sondern das Gesamtbild im Auge behalten. Nur so können wir aus der gegenwärtigen Krise einigermaßen unbeschadet herauskommen. Es ist höchste Zeit für eine nachhaltigere Politik im Umgang mit dem Virus.