Kommentar: Großbritanniens Nein zur EU wird für beide Seiten teuer
Die Briten haben sich überraschend klar gegen einen Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union entschieden. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hat nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch tiefgreifende Konsequenzen für das Land selbst, aber auch für das übrige Europa. Entscheidend ist jetzt die Reaktion der verbleibenden Länder auf das Votum, insbesondere die Frankreichs und Deutschlands.
18. Juli 2016
Die Briten haben sich überraschend klar gegen einen Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union entschieden. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hat nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch tiefgreifende Konsequenzen für das Land selbst, aber auch für das übrige Europa. Entscheidend ist jetzt die Reaktion der verbleibenden Länder auf das Votum, insbesondere die Frankreichs und Deutschlands.
Die Reaktion der Finanzmärkte auf Umfragewerte vor der Abstimmung hatte bereits gezeigt, dass dieses Abstimmungsergebnis kurzfristig zu starken Verwerfungen auf den Finanzmärkten führen würde. Dies ist dann auch eingetreten (vgl. Aktueller Trend nächste Seite). Für die Finanzmärkte kam das Votum überraschend. In den Wochen vor dem Referendum hatte das Pfund gegenüber dem Euro sogar um etwa 3% aufgewertet. Diese Bewegung hat sich nun umgekehrt. Viele Unternehmen haben bereits angekündigt, Investitionen in Großbritannien zu reduzieren oder ganz auszusetzen, weil der Zugang zum europäischen Markt nicht mehr gesichert ist. Auch der Finanzplatz London könnte unter dem Votum leiden. Mittelfristig wird aus Sicht Großbritanniens allerdings viel davon abhängen, wie die Verhandlungen mit der EU über den Austritt ablaufen werden. Beide Seiten können von einer schnellen Einigung nur profitieren. Nachdem allerdings in Großbritannien die Protagonisten der Auseinandersetzung abgetreten sind, scheint mit der neuen Premierministerin nun etwas Ruhe eingekehrt zu sein.
Inwieweit wird ein Brexit die wirtschaftlichen Aussichten der EU beeinträchtigen? Der Euro hat in den letzten Wochen auf eine höhere Wahrscheinlichkeit eines negativen Votums nicht reagiert und scheint stabil zu bleiben. Inwieweit die Märkte für Güter und Dienstleistungen, Arbeit und Kapital innerhalb der Union britischen Unternehmen nicht mehr im gleichen Maße offenstehen, hängt von den kommenden Verhandlungen ab. Die Abstimmung selbst führt nicht zu einem Austritt, sondern initiiert lediglich einen Austrittsprozess, der möglicherweise sogar noch vom Britischen Parlament bestätigt werden müsste. Zumindest kurzfristig wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Wohlfahrtsverlusten auf beiden Seiten kommen. Großbritannien führt 45% seiner Gesamtexporte an Gütern und Dienstleistungen in die restliche EU aus. Umgekehrt sind nur etwa 6% der Exporte aus den übrigen EU-Ländern für Großbritannien bestimmt, in Deutschland ist der Anteil mit 7% geringfügig höher.
Langfristig ist ein weniger wirtschaftsfreundliches Klima im Sinne von mehr Regulierung in der Europäischen Union zu erwarten. Unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt, wie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU künftig gestaltet werden. Vieles wäre möglich (Europäische Freihandelsassoziation – EFTA, bilaterale Abkommen), entscheiden wird sich so schnell nichts. Aus britischer Sicht ist eines der größten Probleme, die der Austritt nach sich zieht, dass die Handelsbeziehungen mit etwa 60 Drittländern (etwa den USA, Indien, China, Japan und Australien), die bislang auf Abkommen der EU beruhten, nun allesamt neu zu verhandeln sind, und das aus einer ziemlich schwachen Verhandlungsposition.
Aus EU-Sicht besteht die Gefahr, dass es zu weiteren Desintegrationserscheinungen in der Union kommt. Interessanterweise scheint das britische Chaos aber nun doch eher abschreckend zu wirken und hat die Kohärenz der EU vielleicht sogar eher gestärkt. Auf Grundlage des Art. 50 des EU-Vertrags, der den freiwilligen EU-Austritt regelt, steht es den Mitgliedstaaten seit 2009 frei, die EU zu verlassen. Nachdem sich Großbritannien zum Ausscheiden aus dem europäischen Staatenbündnis bekannt hat, könnten weitere Länder in ihrer anti-europäischen Haltung bestärkt werden und dem Beispiel folgen. Deshalb wird die Reaktion der großen verbleibenden Länder, insbesondere Deutschland und Frankreich, so entscheidend sein. Es muss dringend eine kluge und tragfähige Zukunftsstrategie erarbeitet und gemeinsam überzeugend kommuniziert werden. Verbesserungen in der demokratischen Legitimation der EU-Institutionen, weniger Regulierung in Arbeits- und Produktmärkten, ein Abbau der Bürokratie sowohl in der EU als auch in den Mitgliedsländern, eine weitgehende Umsetzung der Kapitalmarktunion und eine Neu-Priorisierung der EU-Ausgaben müssen dringend in Angriff genommen werden, damit die Union zukunftsfähig wird, mit oder ohne Großbritannien.