Kommentar: Mit bester Absicht in die Krise
Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite werden die Finanzmärkte besser kontrolliert denn je. Das kann böse Folgen haben.
21. September 2018
Die Finanzkrise von 2008/2009 war die schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression in den Dreißigerjahren. In der Folge haben weltweit schätzungsweise 20 bis 30 Millionen Menschen ihren Job verloren. In fast allen Industrieländern fiel das BIP, in Deutschland im Jahr 2009 um mehr als 4,5 Prozent und damit so stark wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen verstehen wir die Gründe für das Desaster recht gut. Aber haben wir daraus die richtigen Schlüsse gezogen?
Abgesehen von der unzureichenden Regulierung des Finanzsystems musste vor zehn Jahren einiges zusammenkommen, damit die Krise derart durchschlagen konnte. Einen wichtigen Faktor dabei übersieht man oft: die Rolle der amerikanischen Sozialpolitik in den Jahren vor der Krise. Die Bush-Regierung wollte den Anteil der Wohnungseigentümer bei Minderheiten erhöhen. Dafür gab und gibt es viele gute Gründe: Wohnungseigentümer kümmern sich besser um ihre Häuser, die Kriminalitätsrate in diesen Nachbarschaften sinkt deutlich. Daher setzte die US-Regierung starke Anreize für Banken, in solchen Gegenden mehr Hypotheken zu vergeben. Wenn Zielvorgaben bei zweitklassigen Hypotheken nicht erreicht wurden, drohten empfindliche Sanktionen.
In den folgenden Jahren gab es eine Masse zweitklassiger Immobilienkredite, die Wohnungspreise stiegen weiter und weiter. Das war möglich, weil Banken Wege fanden, diese Hypotheken rentabel zu machen, indem sie sie verbrieften und anschließend aus der Bilanz auslagerten. Auch viele Nicht-US-Banken haben in diese Hypotheken investiert, zum Beispiel die deutschen Landesbanken. Nur deshalb hatte die Krise von den USA ausgehend weltweite Konsequenzen. Denn mit dem Management der Risiken aus diesen neuen Produkten waren viele Akteure überfordert. Den Banken und den Regulatoren fehlte schlichtweg die Erfahrung. Die Selbstheilungskräfte des Marktes haben sie überschätzt. Dass Lehman Brothers am 15. September 2008 Insolvenz anmeldete und nicht gerettet wurde, ist das beste Beispiel für diese Selbstüberschätzung. Die katastrophalen Folgen sind bekannt.
Wir haben viel aus der Krise gelernt. Zum Beispiel, dass Liquidität im Finanzsystem während einer Krise eine entscheidende Rolle spielt. Daher stellt das überarbeitete Regelwerk für Banken „Basel III“ neben Kapitalexplizit auch Liquiditätsanforderungen. Es wurden wie in der europäischen Bankenunion Mechanismen eingeführt, die die Abwicklung einer insolventen Bank ermöglichen, ohne die Realwirtschaft in Mitleidenschaft zu ziehen. Gleichzeitig wurden Regeln zur Bezahlung von Bankmanagern eingeführt, das Investment Banking vom klassischen Bankengeschäft getrennt und vieles mehr. Regulatoren auf der ganzen Welt haben verstanden, dass es Anfang der 2000er Jahre zu wenig Regulierung gab, und entsprechend reagiert.
Dabei haben sie allerdings einen großen Fehler gemacht. Sie haben versäumt, über die Nebenwirkungen der neuen Regeln nachzudenken. Noch mal: Der Ausgangspunkt der Finanzkrise von 2008/2009 war eine unbeabsichtigte Nebenwirkung einer wohlmeinenden staatlichen Intervention am Finanzmarkt. Auch jetzt ist nicht zu bestreiten, dass die Flut der neuen Regulierungen in bester Absicht verabschiedet und umgesetzt wird. Aber in keinem Fall wissen wir, wie Banken reagieren, wie die einzelnen Regulierungen miteinander interagieren und wie sich die zusätzliche Regulierung auf den noch immer großen Teil der Finanzindustrie auswirkt, der sich außerhalb der Regulierung bewegt.
Diese Arbeit muss dringend gemacht werden, und zwar von unabhängigen, ausgewiesenen Gutachtern und nicht von den Regulierern selbst. Sonst riskieren wir in bester Absicht die nächste Finanzkrise. Entscheidend ist dabei, dass Forscher Zugang zu den relevanten Daten bekommen und Aufsichtsbehörden sich nicht hinter vorgeschobenen Datenschutzbehauptungen verschanzen können. Die Risiken und Nebenwirkungen der neuen Regulierungsinstrumente und insbesondere deren Interaktion untereinander müssen gründlich untersucht werden. Erst dann kann man im Notfall richtig reagieren. Solange die Finanzkrise noch relativ frisch im Gedächtnis ist, können schlimme Fehler vielleicht noch korrigiert werden.