Nachlassende Unternehmensdynamik in Europa: Die Rolle von Schocks und Reaktionsfähigkeit
Wir untersuchen die Veränderung der Unternehmensdynamik in Europa seit 2000 anhand neuer Daten, die wir für 19 europäische Länder erhoben haben. In allen Ländern dokumentieren wir einen breit angelegten Rückgang der Unternehmensdynamik, der die meisten Wirtschaftszweige und Firmengrößenklassen betrifft. Große und ältere Unternehmen verzeichnen den stärksten Rückgang der Unternehmensdynamik. Gleichzeitig geht der Anteil an Personen, die in jungen Unternehmen arbeiten, zurück. In Übereinstimmung mit Ergebnissen aus den USA reagieren Unternehmen in Europa weniger stark auf Produktivitätsveränderungen als früher („Reaktivität von Firmen“), was einen Teil des Rückgangs der Unternehmensdynamik erklärt. Im Gegensatz zur bisherigen Evidenz für die USA hat sich in Europa jedoch auch die Dynamik von Produktivitätsschocks abgeschwächt, was einen weiteren Teil des Rückgangs der Unternehmensdynamik erklärt. Für das deutsche Verarbeitende Gewerbe berechnen wir, dass der Rückgang der Reaktivität von Firmen ca. 40% des Rückgangs der Unternehmensdynamik erklärt, während die Abschwächung von Produktivitätsschocks 60% des Rückgangs der Unternehmensdynamik erklärt. Diese Prozesse deuten darauf hin, dass Marktfriktionen, wie beispielsweise Firmenmarktmacht in Europa, zu zunehmenden Fehlallokationen führen und dass die Innovationsprozesse sich abgeschwächt haben, woraus eine geringere Umverteilung von Marktanteilen zwischen Firmen resultiert.
02. Oktober 2024
Inhalt
Seite 1
Unternehmensdynamik in EuropaSeite 2
Mechanismen: Reaktivität und SchocksSeite 3
SchlussfolgerungenSeite 4
Endnoten Auf einer Seite lesenEiner der meistdiskutierten makroökonomischen Trends der letzten Jahrzehnte ist der Rückgang der Unternehmensdynamik in den USA. Die Verlangsamung des Prozesses der Gründung, Expansion, Kontraktion und Schließung von Unternehmen ist in den USA mit einer Vielzahl von Messgrößen und Datenquellen dokumentiert worden (Decker et al., 20161). Unternehmensdynamiken und die damit verbundene Reallokation von Marktanteilen zwischen Firmen spielen eine entscheidende Rolle für das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum (Decker et al., 20202) und für die Erholung der Volkswirtschaft nach Rezessionen (Pugsley und Şahin, 20193). Dennoch sind die wirtschaftlichen Faktoren, die den Rückgang der Unternehmensdynamiken verursachen, nach wie vor Gegenstand anhaltender Diskussionen. Darüber hinaus beschränken sich Analysen der Unternehmensdynamik im Wesentlichen auf die USA, und es mangelt an Evidenz für Europa, mit Ausnahme weniger länderspezifischer Studien (Bijnens und Konings, 2020;4 Citino et al., 20235), da keine vergleichbaren länderübergreifenden Daten vorliegen. In einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung bringen wir neue, selbst erhobene europäische Daten in diese Debatte ein (Biondi et al., 20246). Unsere wichtigsten Beiträge sind (i) die Erhebung und Veröffentlichung neuer Daten für 19 europäische Länder zur Unternehmensdynamik, (ii) die Dokumentation eines weit verbreiteten Rückgangs der Unternehmensdynamik in den letzten Jahrzehnten auch in Europa, (iii) die Analyse und Quantifizierung der relativen Bedeutung der mikroökonomischen Triebkräfte, die diesem Rückgang zugrunde liegen, und (iv) die Herleitung eines neuen empirischen Verfahrens, das die Gründe des Rückgangs ermittelt. Für den folgenden Beitrag konzentrieren wir uns auf ausgewählte Ergebnisse unserer Arbeit und verweisen für eine umfangreichere Analyse auf unseren Fachartikel (Biondi et al., 2024).
Unternehmensdynamik in Europa
Die größte Herausforderung für Forscher bei der Analyse der Unternehmensdynamik in Europa ist der Mangel an vergleichbaren Daten auf Unternehmensebene für verschiedene Länder. Um dieses Problem zu adressieren, erheben wir in einer einzigartigen Kooperation mit den statistischen Ämtern und Zentralbanken in Europa neue Daten auf Industrieebene, die auf den repräsentativen Unternehmenserhebungen der amtlichen Statistiken in den einzelnen Ländern basieren (siehe dazu https://www.comp-net.org/). Kurz gesagt programmieren wir vereinheitlichte Datenerhebungsprotokolle, die wir in Form von Programmcodes an die einzelnen statistischen Ämter und Zentralbanken senden. Diese Codes berechnen aus den Mikrodaten auf Unternehmensebene einheitliche Maße für Unternehmensdynamiken auf Industrie- und Länderebene unter Berücksichtigung aller länderspezifischen Geheimhaltungs- und Datenschutzrichtlinien. Im Rahmen des CompNet-Projekts wurden ähnliche Erhebungen bereits in der Vergangenheit durchgeführt. Unser Beitrag besteht darin, diese Erhebungen hinsichtlich einheitlicher Merkmale zur Unternehmensdynamik zu erweitern.
Mit dieser neuartigen Datenbank dokumentieren wir eine Reihe neuer Fakten zur Unternehmensdynamik in Europa. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die so genannte "Job Reallocation Rate" oder "Arbeitsplatzreallokationsrate", die eine Aggregatskennzahl für das Arbeitsplatzwachstum und den Arbeitsplatzrückgang ist. Im Grunde genommen misst diese Zahl, wie stark Arbeitsplätze zwischen wachsenden und schrumpfenden Firmen umverteilt werden. Eine hohe wirtschaftliche Dynamik ist dadurch gekennzeichnet, dass diese Arbeitsplatzreallokationsrate besonders hoch ist. Abbildung 1a zeigt die Entwicklung dieser Messgröße in den letzten Jahrzehnten in Europa. Wir dokumentieren einen starken Rückgang in der Arbeitsplatzreallokationsrate in allen 19 untersuchten Ländern, wobei der Rückgang in den osteuropäischen Ländern noch stärker ausfällt. Abbildung 1b zeigt, dass der Beschäftigungsanteil junger Unternehmen (nicht älter als fünf Jahre) gleichzeitig erheblich zurückging, was darauf hindeutet, dass die europäische Wirtschaft eine strukturelle Alterung erfährt. Wir beobachten somit einen weit verbreiteten Rückgang der Unternehmensdynamik anhand verschiedener Maße. In unserem Forschungspapier dokumentieren wir weitere Fakten, die illustrieren, dass sich dieser Rückgang in der Unternehmensdynamik über nahezu alle Wirtschaftssektoren und Firmengrößenklassen erstreckt. Quantitativ ist dieser Rückgang mit der Evidenz für die USA vergleichbar.