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Zehn Fragen zur Deutschen Einheit

Internationale Medien haben ein anhaltend großes Interesse an den wirtschaftlichen Entwicklungen nach der Herstellung der Einheit Deutschlands. Dies gilt in spezieller Weise für Südkorea, das die Erfahrung eines geteilten Landes mit Deutschland gemeinsam hat. Dort wird der 25. Jahrestag des Mauerfalls zum Anlass genommen, über die deutsche Entwicklung zu berichten und wenn möglich für die Zukunft des eigenen Landes Lehren zu ziehen. Am 20. März 2014 wurde Dr. Gerhard Heimpold, kommissarischer Leiter der Abteilung Strukturökonomik des IWH, von einem Team des Fernsehsenders „Korean Broadcasting Systems“ (KBS), einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in der Republik Korea, zur Deutschen Einheit sowie zum wirtschaftlichen Aufholprozess der Neuen Länder und speziell Sachsen-Anhalts interviewt. Eine Schriftfassung dieses Gesprächs wird nachfolgend wiedergegeben.

30. Juni 2014

Autoren Gerhard Heimpold

1. Wie hoch schätzte man die Kosten vor der Deutschen Einheit?

Wie hoch sind die tatsächlichen Kosten der Vereinigung ausgefallen, das heißt, in welcher Höhe sind insgesamt Transferleistungen aus dem Westen in den Osten geflossen? Wie hoch ist schätzungsweise der weitere finanzielle Bedarf für die Neuen Bundesländer?

Die Kosten der Einheit Deutschlands vorab zu schätzen, war kaum möglich. Die DDR-Führung ließ ein Bild über die DDR-Wirtschaft verbreiten, das schöngefärbt war. In der Retrospektive hat das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) die Nettokosten ermittelt, die sich aus der Herstellung der Einheit Deutschlands ergaben. Die Daten dieser Studie, die die Jahre 1991 bis 2005 umfasst, ergeben ein Nettovolumen von einer Billion Euro in diesem Zeitraum.  Künftig werden die Mittelflüsse aus den Europäischen Strukturfonds geringer, und die Solidarpakthilfen des Bundes werden auslaufen. Daher besteht die Notwendigkeit, die Mittel künftig noch stärker auf die wirtschaftlich vielversprechendsten Projekte zu konzentrieren.

2. Gibt es seitens der Bundesregierung Angaben zur wirtschaftlichen Effektivität der Transferleistungen? Wenn nicht, warum nicht?

In Deutschland werden wirtschaftspolitische Programme üblicherweise von unabhängigen Forschungseinrichtungen evaluiert. Eines der wichtigsten Wirtschaftsförderprogramme war und ist ein regionalpolitisches Programm: die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Es gewährt Investitionszuschüsse für Unternehmen und für Kommunen. In zahlreichen Studien, darunter auch aus dem IWH,  wurde dieser Förderung eine positive Anstoßwirkung attestiert. Mit anderen Worten: Ohne diese Zuschüsse wären die Investitionen in sehr vielen Fällen gar nicht, nicht im gegebenen Umfang oder erst später getätigt worden. Allerdings waren auch Mitnahmeeffekte nicht auszuschließen.

3. Es gibt Ansichten, die die allzu schnelle Vereinigung verantwortlich machen für die Höhe der Kosten der Deutschen Einheit.

Aus meiner Sicht war das Gegenteil der Fall. Ein langsameres Vorgehen hätte bedeutet, die ineffizienten früheren Kombinatsstrukturen über längere Zeit am Leben zu halten. Dies hätte die öffentlichen Haushalte angesichts der hohen Verluste, die die ehemaligen Kombinate nach dem Übergang in die Marktwirtschaft machten, finanziell überfordert.

4. Wie beurteilen Sie die Entscheidung für einen Umtauschkurs von eins zu eins zwischen Ostmark und Westmark?

Die Entscheidung für einen Umtauschkurs von eins zu eins für Guthaben bis zu einer Höhe von 4 000 Mark für Erwachsene und
2 000 Mark für Kinder und für laufende Zahlungen, etwa Löhne, war damals politisch motiviert. Es sollten soziale Spannungen und eine Massenabwanderung in den Westen Deutschlands vermieden werden. Für den ostdeutschen Unternehmenssektor bedeuteten die geltenden Umtauschverhältnisse faktisch eine Währungsaufwertung. Sie beeinträchtigten die Wettbewerbsfähigkeit. Aber es war keinesfalls der Umtauschkurs allein, der eine massive Deindustrialisierung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auslöste. Es war ein ganzes Faktorenbündel, das die ostdeutschen Betriebe in Schwierigkeiten brachte: das Wegbrechen der Märkte in den Mitgliedstaaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, dem damaligen wirtschaftlichen Bündnis der sozialistischen Staaten, der rasche Lohnanstieg, der angesichts einer geringen Produktivität die Betriebe überforderte, und der weithin verschlissene, obsolete Sachkapitalstock, der ein Erbe der langjährigen Vernachlässigung von Investitionen in der DDR war.

5. Wie ist der Stand der Angleichung zwischen Ost und West? Wie würden Sie ihn bewerten?

Einerseits zeigt sich ein deutlicher Fortschritt, andererseits bestehen unverändert einige Defizite. Ein Fortschritt zeigt sich in Ostdeutschland (ohne Berlin) beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, das ursprünglich 67% unter dem westdeutschen Niveau lag; heute beträgt die Lücke noch 33%. Der Kapitalstock im Unternehmenssektor und in der Infrastruktur wurde modernisiert. Die Umweltsituation hat sich spürbar verbessert. Die Neuen Länder verfügen über einen gut ausgebauten öffentlichen Forschungs- und Bildungssektor. Andererseits erweisen sich einige strukturelle Probleme als sehr hartnäckig: die geringe Unternehmensgröße, schwache Aktivitäten in Forschung und Entwicklung (FuE) der privaten Unternehmen, das Fehlen von Konzernzentralen und siedlungsstrukturelle Besonderheiten.

6. Ist der Angleichungsprozess in den einzelnen Neuen Bundesländern unterschiedlich verlaufen? Bitte erläutern Sie ggf. diese Unterschiede und die Gründe dafür.

Bei den Veränderungsraten des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den einzelnen ostdeutschen Ländern (vgl. Abbildung 1). Dies weist darauf hin, dass alle Flächenländer in Ostdeutschland ähnliche Schwachpunkte in den gerade genannten Bereichen aufweisen. Überall dominieren kleine Unternehmen, während große Firmen mit eigenen Forschungsabteilungen fehlen; die Folgen sind eine geringere Exportintensität und Produktivität. Auch städtische Ballungen sind nicht so ausgeprägt wie ihre westdeutschen Pendants.

7. Sachsen-Anhalt hat unseres Wissens im Vergleich zu anderen Neuen Bundesländern mehr Schulden, eine höhere Arbeitslosigkeit, einen höheren Bevölkerungsrückgang und ein niedrigeres Wirtschaftswachstum. Worin liegen die Ursachen hierfür?

Sachsen-Anhalt war im Vergleich zu anderen Regionen in Ostdeutschland mit einer besonders ungünstigen wirtschaftlichen Ausgangssituation konfrontiert. Dieses Land wies eine Konzentration auf Branchen mit hohem Restrukturierungsbedarf auf – andere ostdeutsche Länder verfügten dagegen über stärker diversifizierte Strukturen. So waren in Sachsen-Anhalt große Kombinate der Chemischen Industrie, des Schwermaschinenbaus und der Nichteisen-Metallurgie angesiedelt, deren Kapitalstock verschlissen war. Luft, Boden und Wasser wiesen extreme Verschmutzungen auf. Auch der Braunkohlebergbau, der ebenfalls die Umwelt stark beeinträchtigte, spielte eine große Rolle. Die Nichteisen-Metallurgie, insbesondere der Kupferbergbau, erwies sich unter Weltmarktbedingungen als ineffizient. Und der Schwermaschinenbau verlor seine angestammten Märkte in Osteuropa, insbesondere in der Sowjetunion. Im Gefolge kam es zu enormen Arbeitsplatzverlusten. Die neu geschaffenen Arbeitsplätze reichten nicht aus, um die verlorengegangenen zu kompensieren. Was übrigens die Arbeitslosenquote betrifft, weist Sachsen-Anhalt seit einigen Jahren nicht mehr den ungünstigsten Wert unter den ostdeutschen Flächenländern auf.

8. Wir haben gehört, dass die „Politik der Leuchttürme“ in Sachsen erfolgreich war. Welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen waren – unmittelbar nach der Wiedervereinigung – in Sachsen-Anhalt erfolgreich und welche nicht?

Für die wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen-Anhalt und auch in den anderen Neuen Ländern nach der Herstellung der Einheit Deutschlands waren vier Politikbereiche von besonderer Bedeutung: erstens die Umstrukturierung des Unternehmenssektors durch Privatisierung, Attrahierung externer Investoren und Existenzgründungen; zweitens die Modernisierung des Kapitalstocks in privatisierten Unternehmen und in der wirtschaftsnahen Infrastruktur, mit positiven Folgen für die Produktivität und die Umwelt; drittens der Ausbau der öffentlichen Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Diese Modernisierungsmaßnahmen gingen mit einem vierten Politikstrang einher, nämlich massiven Sozialtransfers, um Spannungen in diesem Bereich entgegenzuwirken. Unter den Infrastrukturmaßnahmen sind in Sachsen-Anhalt die so genannten Chemieparks hervorzuheben. Deren branchenspezifische Infrastruktur hat Sachsen-Anhalt als Chemiestandort gestärkt. Effektivitätsmängel gab es allerdings auch, etwa durch Überschätzung der Bedarfe an wirtschaftsnaher Infrastruktur in peripheren Räumen und Kleinstädten in den frühen Aufbaujahren. Damals wurden in den genannten Regionen teilweise Gewerbegebiete geschaffen, ohne dass es hinreichende Nachfrage durch Unternehmen gab.

9. Was ist vorrangig nötig, um Sachsen-Anhalt weiter an das Niveau der Alten Bundesländer anzugleichen? Müssen möglicherweise die Transferleistungen über das gegenwärtige Niveau hinaus erhöht werden? Wenn ja, um wie viel und in welchen Bereichen?

Um ein weiteres Aufholen Sachsen-Anhalts zu erreichen, bedarf es eines weiteren Strukturwandels. Dies erfordert, günstige Bedingungen für das weitere Unternehmenswachstum zu gewährleisten. Denn den gordischen Knoten der wirtschaftlichen Entwicklung bildet die geringe Unternehmensgröße. Sie war und ist eine wichtige Ursache geringerer Export- und FuE-Intensität sowie geringerer Produktivität im Vergleich zu Westdeutschland (speziell zur Betriebsgröße und Exportintensität in der Industrie vgl. Abbildung 2). Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, ist in erster Linie eine Herausforderung für die Unternehmen selbst. Die öffentliche Hand sollte sich auf die Bereitstellung von Infrastrukturen und das Setzen günstiger Bedingungen für unternehmerische Investitionen sowie FuE in kleinen und mittleren Unternehmen konzentrieren. Dies sind Anforderungen, die in allen Neuen Ländern gelten.

10. Die Höhe des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner weist in den einzelnen Neuen Bundesländern keine gravierenden Unterschiede auf. Im Jahr 2012 bewegte es sich zwischen 22 000 und 23 000 Euro (ohne Berlin).

Die wirtschaftliche Entwicklung und deren Geschwindigkeit waren in den Neuen Bundesländern jedoch unterschiedlich, so haben wir jedenfalls erfahren. Wie ist es zu erklären, dass das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dennoch einen annähernd gleichen Stand aufweist?

Die Unterschiede beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner sind tatsächlich, ähnlich wie die Veränderungsraten, beim Vergleich der einzelnen ostdeutschen Länder vergleichsweise gering
(vgl. Abbildung 1). Dies weist darauf hin, dass alle ostdeutschen Länder vor ähnlichen Herausforderungen stehen.

Außerdem in diesem Heft

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Kommentar: Auf welche Frage sind zwei Billionen die Antwort?

Oliver Holtemöller

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2014

Abstract

Alle Jahre wieder wird berechnet, was wohl die Deutsche Einheit gekostet habe. Zuletzt veröffentlichte die Welt am Sonntag, dass knapp zwei Billionen Euro an Fördergeldern von West nach Ost geflossen seien. Die Berechnung dieser Kennzahl ist wenig umstritten, die Größenordnung ist einigermaßen plausibel: Es werden Nettotransfers von West nach Ost zwischen 1991 und 2013 aufsummiert (Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich, Solidarpakt II, Fonds Deutsche Einheit, regionaler Saldo der Sozialversicherungsleistungen usw.).

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Geriet die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Euroraum-Ländern nach Gründung der Währungsunion aus dem Gleichgewicht?

Makram El-Shagi Axel Lindner Gregor von Schweinitz

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2014

Abstract

Waren die Peripherieländer im Euroraum am Vorabend der Eurokrise nicht mehr wettbewerbsfähig? Oder war die preisliche Wettbewerbsfähigkeit in den Kernländern wie Deutschland ungewöhnlich hoch? Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach. Das gängige Maß für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit sind die realen effektiven Wechselkurse. Deren Bestimmungsfaktoren waren jedoch kurz vor der Krise selbst möglicherweise nicht im Gleichgewicht und lassen daher kaum Rückschlüsse auf gleichgewichtige Wechselkurse zu. Um dieses Messproblem zu umgehen, wird ein Matching-Ansatz zur Schätzung realer effektiver Wechselkurse verwendet. Dazu wird für jedes Mitgliedsland des Euroraums ein synthetisches Vergleichsland als Kombination mehrerer anderer Länder konstruiert, die den Euro nicht eingeführt haben. Es zeigt sich, dass die Peripherieländer des Euroraums am besten durch eine Mischung von Schwellenländern und entwickelten Volkswirtschaften beschrieben werden, während für ein Matching der Kernländer keine Schwellenländer notwendig sind. Die hier angewendete Methode zeigt, dass die realen effektiven Wechselkurse in den Peripherieländern zwischen Oktober 2007 und September 2008 teilweise deutlich zu hoch waren, während sie in den Kernländern mehr oder weniger nah bei ihrem Gleichgewichtsniveau lagen.

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Im Fokus: Die Entwicklung der Kernkapitalquoten der deutschen Banken seit der Finanzkrise

Manuel Buchholz Felix Noth

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2014

Abstract

Das Eigenkapital einer Bank dient aus aufsichtsrechtlicher Sicht zwei Zielen: zum einen dem Ausgleich von Verlusten aus laufenden Geschäften oder der Begleichung von Gläubigeransprüchen im Insolvenzfall, zum anderen der Begrenzung von Verlustrisiken aus bestimmten Geschäften. Ein wichtiger Bestandteil des Eigenkapitals ist dabei das Kernkapital. Das Kernkapital ist der Anteil des Eigenkapitals einer Bank, der dem Institut dauerhaft zur Verfügung steht und somit als echter Verlustpuffer dienen kann. Bestandteile sind unter anderem das Stammkapital, Kapitalrücklagen, Gewinnrücklagen oder eigene Aktien der Bank. Aus dem Kernkapital ergibt sich eine wichtige aufsichtsrechtliche Kenngröße: die Kernkapitalquote (Tier 1 Capital Ratio). Diese berechnet sich als das Verhältnis von Kernkapital zur Summe der Risikoaktiva einer Ba

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Prognose-Update: Binnennachfrage treibt Aufschwung in Deutschland

Arbeitskreis Konjunktur

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2014

Abstract

In Deutschland hat sich im Lauf des vergangenen Jahres ein binnenwirtschaftlich getriebener Aufschwung entwickelt, der gegenwärtig durch verstärkte Investitionstätigkeit zusätzlichen Schub erhält. Die Fremdfinanzierungskosten der Unternehmen sind aufgrund der sehr niedrigen Zinsen vorteilhaft, und die Absatzperspektiven sind gut: Wegen der fortgesetzten Ausweitung der Beschäftigung und recht deutlicher Lohnzuwächse ist damit zu rechnen, dass die privaten Haushalte ihren Konsum im Prognosezeitraum recht kräftig ausweiten werden. Vom außenwirtschaftlichen Umfeld kommen dagegen nur geringe Impulse. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte sowohl im laufenden als auch im kommenden Jahr um 2,0% steigen. Für das Jahr 2014 reicht das 66%-Prognoseintervall von 1,5% bis 2,4%, für das Jahr 2015 von 0,4% bis 3,6%.

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