Demographischer Wandel
Deutschland wird älter. Es darf seine junge Generation nicht überfordern. Und es sollte weltoffen sein, um qualifizierte Zuwanderer zu gewinnen.
Dossier
Auf den Punkt
Viele tausend Geflüchtete strömten 2015 und 2016 in die Mitgliedstaaten der EU, vor allem Richtung Deutschland. Soweit, so kontrovers diskutiert. Das viel gravierendere und langfristigere Problem des demographischen Wandels wurde dabei aber gekonnt verdrängt. Wenn es zum Teil auch unpopulär klingen mag: Einwanderung ist existenziell für Deutschland, anders lässt sich dem demographischen Wandel nicht begegnen. Denn die Bevölkerung altert kontinuierlich und weder der Arbeitsmarkt, die Kommunen mit ihren Infrastrukturinvestitionen noch das deutsche Rentensystem sind aktuell ausreichend darauf vorbereitet.
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Europas Jahrhundertaufgabe
Die zunehmende Alterung der Bevölkerung steht schon heute weit oben auf der politischen Agenda und wird für die heranwachsende Generation zu einer großen Herausforderung. Bleibt alles wie es ist, werden die Kinder von heute weit höhere Rentenbeiträge zahlen müssen als ihre Eltern oder Großeltern – und im Gegenzug deutlich weniger Geld bekommen, wenn sie selbst alt sind. Zwar wird der demographische Wandel bei der Rentenanpassung berücksichtigt, jedoch nicht ausreichend, um das eben beschriebene Szenario zu verhindern. Zu dem bestehenden System gibt es aber durchaus Alternativen. So könnte das Rentenniveau bei Renteneintritt auf dem heutigen Niveau oder sogar etwas darüber fixiert werden und die Renten derjenigen, die bereits in Rente sind, nur noch mit der Inflationsrate steigen. Der Lebensstandard bliebe dadurch erhalten. Auf der anderen Seite muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch besser werden, damit Paare sich nicht scheuen, Kinder zu bekommen. Schon vor beinahe 10 Jahren stellte das IWH fest, dass vor allem im Westdeutschland Frauen nach der Geburt nur noch in Teilzeit weiterarbeiten.
Auch die Kommunen Deutschlands haben den demographischen Wandel und damit die Zukunft zu wenig im Blick. Denn sie machen ihre Investitionen vorrangig von der aktuellen Finanzlage abhängig und zu wenig davon, wie sich die Bevölkerung in Zukunft entwickeln wird. Machen die Kommunen so weiter, werden einige in 20 Jahren chronisch unter- und andere überfinanziert sein.
Außerdem problematisch: Der Fachkräftemangel. Um einen Umzug nach Deutschland für gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland attraktiv zu machen, braucht es eine gezielte Einwanderungspolitik. Die dazu bisher gestarteten Projekte, wie die einer Blue-Card, sind nicht so erfolgreich verlaufen wie erhofft. Aktuell bleibt Deutschland also vom Pool der international Hochqualifizierten isoliert. Ein Punktesystem könnte eine vielversprechende Alternative sein.
Parallel stellt sich Deutschland die große humanitäre Frage der Geflüchteten: Die große Zuwanderungswelle seit 2015 fordert Europa einiges ab. Denn das Asylsystem in Europa hat noch große Mängel. Eine kohärente europäische Asylpolitik wäre aktuell wichtiger denn je, doch die Flüchtlinge wurden in Europa sehr ungleich verteilt. Eine Strategie zu einer fairen Verteilung, bei der sowohl die Zuteilung der Personen als auch die der Kosten berücksichtigt werden, hat das IWH bereits 2015 angestellt.
Darüber hinaus muss der Staat die Integration der Neuankommenden in Kultur und Arbeitsmarkt nachhaltig bewältigen. Dazu gehört es auch, die soziale Durchlässigkeit in unserer Gesellschaft zu erhöhen, um den Zugewanderten gute Ausbildungschancen zu bieten. „Deutschland hat in den vergangenen zehn Jahren aber geschlafen. Wir haben uns nicht ernsthaft Gedanken gemacht, wie wir mit unserer Bevölkerungsentwicklung in 15 Jahren umgehen“, sagt Reint Gropp, der Präsident des IWH im Interview mit der Mitteldeutschen Zeitung.
Ob und wie dieses Land die Chancen der Zuwanderung wirtschaftlich nutzen kann, wird derzeit noch diskutiert. Integration ist entsprechend ein integraler Teil der Debatte. Eine interdisziplinäre, wissenschaftliche Herangehensweise wie die des Forschungsverbunds "Krisen in einer globalisierten Welt" ist aufgrund der Komplexität des Themas aber unerlässlich, um die wechselseitigen Mechanismen und Dynamiken zu verstehen. So zeigen Analysen des IWH etwa, dass die Maßnahmen zur Bewältigung der Zuwanderung im späteren Verlauf des Jahres 2015 einen zusätzlichen konjunkturellen Impuls ausgelöst haben. Der Bund und die Länder stockten die Budgets auf, und die Ausgaben für die Unterbringung, Ernährung, medizinische Versorgung und allgemeine Betreuung der Flüchtlinge regten Nachfrage und Produktion an, insbesondere in den Bereichen Bau- und Gastgewerbe sowie bei Unternehmensdienstleistern. Nach Berechnungen der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose trugen die migrationsbedingten Ausgaben deutschlandweit um 0,1 Prozentpunkte zum Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2015 bei.
Weltweit gilt heute einer von 113 Menschen als Flüchtling, 65 Millionen sind es insgesamt. Um dem vielschichtigen Problem "Flucht" Herr zu werden, muss sich die Politik deutlich besser organisieren und im besten Fall kollektive Maßnahmen erarbeiten. Nur so kann eine möglichst effiziente Problemlösung erreicht werden – und vor allem eine menschliche.
Der demographische Wandel greift tief in verschiedene gesellschaftliche Sphären ein, wird von Politik und Bevölkerung aber trotzdem weiter unterschätzt. Rente, Zukunftsinvestitionen, Flucht. All diese Bereiche betreffen Menschen hierzulande direkt und unmittelbar. Genau deshalb braucht es zeitnah Lösungen, die die Bezeichnung „nachhaltig“ verdienen.
Publikationen zum Thema "Demographischer Wandel"
Wachstumsprojektion 2025 für die deutschen Länder: Produktion je Einwohner divergiert
in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 4, 2012
Abstract
Viele ökonomische Entscheidungen basieren implizit oder explizit auf Projektionen der wirtschaftlichen Aktivität in einem Land oder einer Region. In diesem Artikel wird ein langfristiges Projektionsmodell für Deutschland insgesamt und die deutschen Länder vorgestellt, das am IWH entwickelt worden ist. Das Modell beruht auf einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion; die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie die Produktivität werden mit Zeitreihenmodellen fortgeschrieben. Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland insgesamt wird in die Teilmodelle für die Länder integriert, und die Annäherung der einzelnen Länder an den Bundestrend wird mit ökonometrischen Verfahren geschätzt. Mit Hilfe des Modells wird eine Projektion der wirtschaftlichen Aktivität in Deutschland insgesamt und in den Ländern bis zum Jahr 2025 vorgenommen. Ein wichtiges Resultat ist, dass die ungünstigere demographische Entwicklung in den ostdeutschen Ländern wohl nicht durch weitere Konvergenz der Produktivität und der Kapitalintensität kompensiert werden kann, sodass die Produktion je Einwohner in den ostdeutschen Ländern schwächer zunehmen dürfte als in den westdeutschen Ländern. Zwar verläuft die Entwicklung auch in den westdeutschen Ländern heterogen, es dürfte aber im Gegensatz zu den ostdeutschen Flächenländern in keinem westdeutschen Land mit heute unterdurchschnittlicher Produktion je Einwohner zu einer spürbaren Vergrößerung des Abstandes zum Bundesdurchschnitt kommen.
Im Fokus: Altersarmut und soziales Befinden in Ost- und Westdeutschland, 1995 und 2009
in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 7, 2011
Abstract
Der vorliegende Beitrag stellt, getrennt für West- und Ostdeutschland sowie für Deutschland insgesamt, Indikatoren zur Armutsmessung für die beiden Jahre 1995 und 2009 vor. Untersucht werden Rentnerhaushalte in beiden Teilen Deutschlands, wobei zwischen Frauen und Männern unterschieden wird. Neben Kennzahlen zur Einkommensarmut (Einkommensperzentile u. a.) werden die unterschiedlichen Einkommensquellen im Alter dargestellt; soziale Indikatoren geben darüber hinaus Auskunft über die aktuelle und zukünftig erwartete Lebenszufriedenheit. Der Vergleich beider Jahre zeigt eine Zunahme der Altersarmut sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. Betroffen hiervon sind Männer stärker als Frauen – bei den ostdeutschen Frauen hat sich die Altersarmut sogar leicht verringert. Neben der Sicht auf das Einkommen zeigen die sozialen Indikatoren, dass bei den armutsgefährdeten Personen in Ostdeutschland die Lebenszufriedenheit zwischen 1995 und 2009 abgenommen hat, bis zum Jahr 2014 jedoch auch mit einer leicht geringeren Unzufriedenheit gerechnet wird.