Handelsschocks, Arbeitsmärkte und Wohlstand während der ersten Globalisierung
Dieser Beitrag untersucht Deutschland in der ersten Globalisierung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Damals erlebte das Deutsche Reich eine massive Zunahme von Getreideimporten aus Amerika. Wir vergleichen Landkreise, die auf die importierten Getreidesorten spezialisiert waren, mit Kreisen, die andere landwirtschaftliche Güter hergestellt haben. Unsere Resultate zeigen, dass viele Arbeitskräfte die Kreise verlassen, in denen vom Handelsschock betroffene Produkte hergestellt wurden. Allerdings bleiben die in modernen Volkswirtschaften beobachteten negativen Effekte auf Einkommen pro Kopf und Sterblichkeit aus, auch eine politische Radikalisierung findet nicht statt. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Migrationsbewegungen negative wirtschaftliche und in der Folge auch politische Auswirkungen abfedern. Damals verließen etwa viermal so viele Einwohner ihren Landkreis nach einem Handelsschock wie in vergleichbaren Situationen in den heutigen USA.
11. April 2022
Contents
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Globalisierungsschübe damals und heutePage 2
Getreideimporte ins Deutsche Kaiserreich: Welche Regionen waren betroffen?Page 3
Migration kann Handelsschocks abfedernPage 4
Endnoten All on one pageGlobalisierungsschübe gehören zu den wichtigsten Treibern von Strukturwandel, weil neue ausländische Produkte einheimische Firmen teilweise verdrängen und sich im Gegenzug Exportmöglichkeiten auftun. In der Wirtschaftswissenschaft dominierte lange die Ansicht, dass Arbeitsmärkte die notwendige Neuverteilung der Arbeitskräfte zügig vermitteln können und schnell ein (zumindest im Durchschnitt) positives Ergebnis erreichen.1
Die Arbeiten von Autor et al. rückten die Verlierer solcher Globalisierungsschübe mehr ins Zentrum der Analyse.2 Sie konnten zeigen, dass US-amerikanische Beschäftigte in den von chinesischen Importen betroffenen Branchen deutliche und langanhaltende Einkommensausfälle erleiden und die betroffenen Regionen noch Jahrzehnte nach dem ursprünglichen Schock deutlich ärmer sind. Damit einher gehen politische Polarisierung, eine erhöhte Sterblichkeit, teilweise verursacht durch Alkohol- und Drogenmissbrauch, und viele andere negative Effekte, die weit über den ökonomischen Bereich hinausgehen.
Aber wie verallgemeinerbar sind diese Effekte? Handelt es sich um ein spezifisch amerikanisches Phänomen? Für die heutige Zeit liegen inzwischen auch für eine Reihe von anderen Industrieländern ähnliche Ergebnisse vor (in Deutschland wurde der Effekt allerdings abgefedert durch den gleichzeitig stattfindenden Exportboom). Trotzdem ist immer noch ungeklärt, was diese langanhaltenden Probleme verursacht.
Wir gehen diese Frage aus einer historischen Perspektive an und untersuchen einen ähnlichen Schock in der Vergangenheit: Wir betrachten das Deutsche Kaiserreich.3 Deutschland befand sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg mitten in der „zweiten Industrialisierung“, getragen durch die Sektoren Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik. Parallel machte die Verbreitung von Eisenbahn und Dampfschiff auch den Handel verhältnismäßig geringwertiger Fracht profitabel. Folglich wuchsen die Getreideimporte aus den USA und Argentinien und drückten die Preise auf dem deutschen Markt.
Von diesem Handelsschock waren besonders die Landkreise betroffen, die sich überwiegend auf Getreideanbau verließen. Dagegen waren Landkreise, die z. B. auf Gemüseanbau oder Tierproduktion spezialisiert waren, kaum betroffen und bilden damit die „Kontrollgruppe“ für unsere Analyse. Wir konzentrieren uns in unserer Untersuchung auf die Jahre 1880 bis 1913 und auf Preußen, den größten Teilstaat des Deutschen Reiches. Für Preußen sind bessere Daten verfügbar als für die anderen Bundesstaaten.
Unsere Ergebnisse fallen anders aus als jene für moderne Industrieländer: Das Kaiserreich war anscheinend deutlich besser darin, den wirtschaftlichen Schock zügig in Strukturwandel zu übersetzen. Wir finden eine etwa viermal höhere Emigration aus den betroffenen Kreisen als heutzutage, aber keine langanhaltenden negativen Effekte in diesen Kreisen, weder bei ökonomischen noch bei politischen oder gesundheitlichen Variablen. Damit legt unser Beitrag nahe, dass die negativen Effekte von Globalisierungsschocks durch höhere Arbeitsmigration aufgefangen werden können und dementsprechend kein zwangsläufiges Ergebnis von Weltmarktintegration sind.
Handelspolitik im Kaiserreich
Während die Landwirtschaft in Deutschland heute wirtschaftlich nur noch eine geringe Rolle spielt (Beschäftigungsanteil im Jahr 2021: 1,2%), waren im Zensusjahr 1882 43% der deutschen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig (vgl. Karte 1). Bis zum Zensusjahr 1907 fiel dieser Anteil auf 35%. Die Interessen des Agrarsektors vertraten in der kaiserlichen Bürokratie gut vernetzte Gruppen wie das „Bündnis von Roggen und Eisen“ oder der „Bund der Landwirte“. Parlamentarischer Arm dieser Bewegung war die Konservative Partei, die an mehreren Regierungen beteiligt war. Auch Kanzler Bismarck hatte ein offenes Ohr für seinesgleichen – die Junker – und die Interessen des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes. 1879 gelang es der konservativen Bewegung, die Zölle im Kaiserreich ungefähr auf das in Europa übliche Niveau anzuheben. Das konnte die Integration in den Weltmarkt allerdings nicht wesentlich aufhalten. Für Wähler, die sich vor Importen schützen wollten, war die Konservative Partei die naheliegende Adresse.
Die Arbeiter im industriell geprägten Westen Deutschlands und in der Metropole Berlin waren die großen Getreidekonsumenten des Kaiserreichs. Organisiert in der Arbeiterbewegung und der SPD, waren sie in vieler Hinsicht der Antipol zu den Konservativen und Junkern. Dazwischen standen die bürgerlichen Parteien (geteilt in die konservativeren Nationalliberalen und die kleineren Linksliberalen) und das Zentrum, die Partei der im protestantischen Preußen manchmal verfolgten und manchmal tolerierten Katholiken. Die Position dieser Parteien zu Protektionismus oder Freihandel war weniger eindeutig.