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Handelsschocks, Arbeitsmärkte und Wohlstand während der ersten Globalisierung

Dieser Beitrag untersucht Deutschland in der ersten Globalisierung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Damals erlebte das Deutsche Reich eine massive Zunahme von Getreideimporten aus Amerika. Wir vergleichen Landkreise, die auf die importierten Getreidesorten spezialisiert waren, mit Kreisen, die andere landwirtschaftliche Güter hergestellt haben. Unsere Resultate zeigen, dass viele Arbeitskräfte die Kreise verlassen, in denen vom Handelsschock betroffene Produkte hergestellt wurden. Allerdings bleiben die in modernen Volkswirtschaften beobachteten negativen Effekte auf Einkommen pro Kopf und Sterblichkeit aus, auch eine politische Radikalisierung findet nicht statt. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Migrationsbewegungen negative wirtschaftliche und in der Folge auch politische Auswirkungen abfedern. Damals verließen etwa viermal so viele Einwohner ihren Landkreis nach einem Handelsschock wie in vergleichbaren Situationen in den heutigen USA.

11. April 2022

Authors Richard Bräuer Wolf-Fabian Hungerland Felix Kersting

Globalisierungsschübe gehören zu den wichtigsten Treibern von Strukturwandel, weil neue ausländische Produkte einheimische Firmen teilweise verdrängen und sich im Gegenzug Exportmöglichkeiten auftun. In der Wirtschaftswissenschaft dominierte lange die Ansicht, dass Arbeitsmärkte die notwendige Neuverteilung der Arbeitskräfte zügig vermitteln können und schnell ein (zumindest im Durchschnitt) positives Ergebnis erreichen.1

Die Arbeiten von Autor et al. rückten die Verlierer solcher Globalisierungsschübe mehr ins Zentrum der Analyse.2 Sie konnten zeigen, dass US-amerikanische Beschäftigte in den von chinesischen Importen betroffenen Branchen deutliche und langanhaltende Einkommensausfälle erleiden und die betroffenen Regionen noch Jahrzehnte nach dem ursprünglichen Schock deutlich ärmer sind. Damit einher gehen politische Polarisierung, eine erhöhte Sterblichkeit, teilweise verursacht durch Alkohol- und Drogenmissbrauch, und viele andere negative Effekte, die weit über den ökonomischen Bereich hinausgehen.

Aber wie verallgemeinerbar sind diese Effekte? Handelt es sich um ein spezifisch amerikanisches Phänomen? Für die heutige Zeit liegen inzwischen auch für eine Reihe von anderen Industrieländern ähnliche Ergebnisse vor (in Deutschland wurde der Effekt allerdings abgefedert durch den gleichzeitig stattfindenden Exportboom). Trotzdem ist immer noch ungeklärt, was diese langanhaltenden Probleme verursacht.

Wir gehen diese Frage aus einer historischen Perspektive an und untersuchen einen ähnlichen Schock in der Vergangenheit: Wir betrachten das Deutsche Kaiserreich.3 Deutschland befand sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg mitten in der „zweiten Industrialisierung“, getragen durch die Sektoren Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik. Parallel machte die Verbreitung von Eisenbahn und Dampfschiff auch den Handel verhältnismäßig geringwertiger Fracht profitabel. Folglich wuchsen die Getreideimporte aus den USA und Argentinien und drückten die Preise auf dem deutschen Markt.

Von diesem Handelsschock waren besonders die Landkreise betroffen, die sich überwiegend auf Getreideanbau verließen. Dagegen waren Landkreise, die z. B. auf Gemüseanbau oder Tierproduktion spezialisiert waren, kaum betroffen und bilden damit die „Kontrollgruppe“ für unsere Analyse. Wir konzentrieren uns in unserer Untersuchung auf die Jahre 1880 bis 1913 und auf Preußen, den größten Teilstaat des Deutschen Reiches. Für Preußen sind bessere Daten verfügbar als für die anderen Bundesstaaten.

Unsere Ergebnisse fallen anders aus als jene für moderne Industrieländer: Das Kaiserreich war anscheinend deutlich besser darin, den wirtschaftlichen Schock zügig in Strukturwandel zu übersetzen. Wir finden eine etwa viermal höhere Emigration aus den betroffenen Kreisen als heutzutage, aber keine langanhaltenden negativen Effekte in diesen Kreisen, weder bei ökonomischen noch bei politischen oder gesundheitlichen Variablen. Damit legt unser Beitrag nahe, dass die negativen Effekte von Globalisierungsschocks durch höhere Arbeitsmigration aufgefangen werden können und dementsprechend kein zwangsläufiges Ergebnis von Weltmarktintegration sind.

Handelspolitik im Kaiserreich

Während die Landwirtschaft in Deutschland heute wirtschaftlich nur noch eine geringe Rolle spielt (Beschäftigungsanteil im Jahr 2021: 1,2%), waren im Zensusjahr 1882 43% der deutschen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig (vgl. Karte 1). Bis zum Zensusjahr 1907 fiel dieser Anteil auf 35%. Die Interessen des Agrarsektors vertraten in der kaiserlichen Bürokratie gut vernetzte Gruppen wie das „Bündnis von Roggen und Eisen“ oder der „Bund der Landwirte“. Parlamentarischer Arm dieser Bewegung war die Konservative Partei, die an mehreren Regierungen beteiligt war. Auch Kanzler Bismarck hatte ein offenes Ohr für seinesgleichen – die Junker – und die Interessen des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes. 1879 gelang es der konservativen Bewegung, die Zölle im Kaiserreich ungefähr auf das in Europa übliche Niveau anzuheben. Das konnte die Integration in den Weltmarkt allerdings nicht wesentlich aufhalten. Für Wähler, die sich vor Importen schützen wollten, war die Konservative Partei die naheliegende Adresse.

Die Arbeiter im industriell geprägten Westen Deutschlands und in der Metropole Berlin waren die großen Getreidekonsumenten des Kaiserreichs. Organisiert in der Arbeiterbewegung und der SPD, waren sie in vieler Hinsicht der Antipol zu den Konservativen und Junkern. Dazwischen standen die bürgerlichen Parteien (geteilt in die konservativeren Nationalliberalen und die kleineren Linksliberalen) und das Zentrum, die Partei der im protestantischen Preußen manchmal verfolgten und manchmal tolerierten Katholiken. Die Position dieser Parteien zu Protektionismus oder Freihandel war weniger eindeutig.

Identifikation des Handelsschocks

Wir schätzen den Effekt des Handelsschocks auf Einkommen, Beschäftigung, Sterblichkeit und den politischen Erfolg protektionistischer, rechter und linker Parteien. Hierzu vergleichen wir Kreise in derselben Provinz (z. B. in Ostpreußen, Schlesien oder Westfalen), die aber unterschiedliche Nutzpflanzen anbauten und deshalb unterschiedlich stark von den Importen betroffen waren. Wir nehmen an, dass sich die Getreide anbauenden Kreise ohne Handelsschock ähnlich entwickelt hätten wie ihre Nachbarn. Falls sich also ein z. B. Weizen oder Ölsaaten anbauender Landkreis schlechter entwickelt als die ihn umgebenden, z. B. auf Gemüseanbau spezialisierten Kreise, führen wir diesen Unterschied auf den Handelsschock zurück (vgl. Karte 2).

Um sicherzugehen, dass die Unterschiede zwischen diesen Kreisen auf den Handelsschock zurückzuführen sind, nutzen wir eine so genannte Instrumentalvariable: Falls sich z. B. die Zollpolitik des Kaiserreichs als Antwort auf den Handelsdruck ändert, wäre die Höhe des Schocks von den Betroffenen „selbst gewählt“ und damit nicht mehr ein zufällig von außen kommendes Ereignis. Um solche Probleme zu umgehen, müssen wir den Handelsschock bestimmen, der „von außen“ nach Deutschland kommt und nicht durch die deutsche Politik moderiert wird.

Um die Bedingungen auf dem Weltmarkt zu ermitteln, nutzen wir zwei verschiedene Techniken: Einmal berechnen wir den Handelsschock für die verschiedenen Getreide nicht mit den deutschen Daten, sondern mit Importdaten des Königreichs Italien aus der gleichen Zeit. Die Getreideimporte nach Italien sind weitgehend unabhängig von denen nach Deutschland, und ein größerer Unterschied zwischen den beiden Maßen würde darauf hindeuten, dass Deutschland erheblichen Gestaltungsspielraum während des Schocks hatte. Als zweites Instrument nutzen wir die Getreidepreise in anderen Teilen der Welt (USA und Großbritannien), die sich dem Einfluss der deutschen Politik ebenfalls entzogen.

Um darüber hinaus auszuschließen, dass die Effekte von anderen Unterschieden zwischen den Landkreisen herrühren, sammeln wir Daten zur Nähe zur nächsten Großstadt, Vermögens- bzw. Landbesitz-Ungleichheit und dem Technologiestand gemessen anhand der installierten Dampfmaschinen (in Pferdestärken). Den Effekt dieser Kontrollvariablen rechnen wir aus dem Ergebnis heraus.

Was bedeutet dies für die Politik?

Unsere Ergebnisse unterstreichen, dass Arbeitsmobilität entscheidend ist, um die auch heute immer wieder auftretenden Weltmarktschocks in den betroffenen Regionen abzufedern. Die Kosten der Mobilität sind heute jedoch höher als zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs: Einerseits stellen neue Jobs höhere Anforderungen an die spezifische Qualifikation der Beschäftigten, andererseits verfügen die Menschen über mehr lokalen Besitz und sind sozial besser abgesichert – sie haben durch einen Umzug mehr zu verlieren.

Für die Politik besteht die Herausforderung darin, den nötigen Strukturwandel zu erleichtern, indem sie die Mobilitätskosten für die Betroffenen verringert. Neben direkten Hilfen zum Umzug ist dabei ein besseres Ausbildungs- und Umschulungssystem ein wichtiger Ansatz.

Auswirkungen des Handelsschocks

Unabhängig davon, welche dieser verschiedenen Techniken wir verwenden, bleiben die Ergebnisse im Wesentlichen die gleichen. Das gibt uns zusätzliche Sicherheit, die Effekte richtig identifiziert zu haben. Im Einzelnen finden wir in betroffenen Kreisen:

  • einen deutlichen Rückgang der Beschäftigung,
  • eine deutliche Zunahme der Emigration,
  • eine schrumpfende Wirtschaftsleistung,
  • keine Veränderung des Durchschnittseinkommens,
  • keine Veränderung der Tagelöhne,
  • keine Veränderung der Sterblichkeit,
  • keine Stärkung protektionistischer Parteien,
  • keine Stärkung der extremen Rechten.

Damit unterscheiden sich die Auswirkungen deutlich von denen, die heute in Industrieländern beobachtet werden können: Typischerweise sieht man heute nach Handelsschocks weniger Abwanderung aus den betroffenen Landkreisen, aber deutlich sinkende Löhne und eine Bevölkerung, die sich politisch polarisiert. Sogar erhöhte Sterblichkeit ist schon nachgewiesen worden.

Wir gehen davon aus, dass der Unterschied durch die deutlich höhere Mobilität der Arbeitskräfte zu erklären ist: Die von uns gemessenen Werte sind etwa viermal so hoch wie jene, die man für die USA nach Handelsschocks mit der gleichen Methodik finden kann. Dahinter steckt teilweise auch die ohnehin stattfindende Abwanderung aus ländlichen Gebieten in die expandierenden Industrien in den Städten. So war für die meisten der neuen Jobs in der Industrie keine Berufsausbildung und kein spezifisches Wissen von Nöten. Dazu kommen institutionelle Faktoren, die Migration erforderlich machten: Die Arbeitslosenversicherung und andere Hilfen waren wesentlich weniger ausgeprägt.

Endnoten

1 Blanchard, O. J.; Katz, L. F.: Regional Evolutions, in: Brookings Papers on Economic Activity, Vol. 1992 (1), 1992, 1–75.

2 Autor, D. H.; Dorn, D.; Hanson, G. H.: The China Syndrome: Local Labor Market Effects of Import Competition in the United States, in: American Economic Review, Vol. 103 (6), 2013, 2121–2168.

3 Dieser Artikel basiert auf Bräuer, R.; Hungerland, W.-F.; Kersting, F.: Trade Shocks, Labour Markets and Elections in the First Globalisation. IWH-CompNet Discussion Papers 4/2021. Halle (Saale) 2021.

 

Suggested Reading

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Trade Shocks, Labour Markets and Elections in the First Globalisation

Richard Bräuer Wolf-Fabian Hungerland Felix Kersting

in: IWH-CompNet Discussion Papers, No. 4, 2021
published in: Economic Journal

Abstract

This paper studies the economic and political effects of a large trade shock in agriculture – the grain invasion from the Americas – in Prussia during the first globalisation (1871-1913). We show that this shock accelerated the structural change in the Prussian economy through migration of workers to booming cities. In contrast to studies using today’s data, we do not observe declining per capita income and political polarisation in counties affected by foreign competition. Our results suggest that the negative and persistent effects of trade shocks we see today are not a universal feature of globalisation, but depend on labour mobility. For our analysis, we digitise data from Prussian industrial and agricultural censuses on the county level and combine it with national trade data at the product level. We exploit the cross-regional variation in cultivated crops within Prussia and instrument with Italian trade data to isolate exogenous variation.

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