Unternehmensinsolvenzen seit Ausbruch der Pandemie
Die Insolvenzzahlen sind trotz Corona-Krise stark gesunken. Aufgrund zahlreicher Großinsolvenzen wie etwa von Esprit, Hallhuber oder Wirecard war das Jahr 2020 bezogen auf die Zahl der betroffenen Beschäftigten trotzdem ein schwieriges Jahr. Eine Insolvenzwelle mit vielen gefährdeten Jobs ab Sommer 2021 ist aufgrund staatlicher Unterstützungsmaßnahmen und abwartendem Verhalten der Unternehmen eher unwahrscheinlich. Soweit es die Pandemielage zulässt, sollten Stützungsmaßnahmen bereits im Jahr 2021 auf den Prüfstand, um eine „Zombifizierung“ der Wirtschaft zu verhindern.
30. June 2021
Mit großem Interesse schaut die Öffentlichkeit im Laufe der Corona-Krise auf die aktuellen Insolvenzzahlen. Dieser Beitrag erklärt, warum und für welche Phänomene Insolvenzen ein wichtiger ökonomischer Indikator sind.1 Auf dieser Grundlage wird das Insolvenzgeschehen seit Beginn der Krise analysiert und die wahrscheinliche Entwicklung der nächsten Monate skizziert.
Warum interessieren uns Insolvenzen?
Insolvenzen dienen als Gradmesser für das Ausmaß der Coronakrise, für Jobverluste und mögliche ökonomische Ansteckungsgefahren von Unternehmen zu Unternehmen. Auch wenn eine Insolvenz nicht notwendigerweise in die Schließung eines Unternehmens mündet, so ist diese in der Tat das bei Weitem häufigste Ergebnis einer Insolvenz.2 Insolvenzen sind allerdings nur eine von vielen Varianten, wie Unternehmen vom Markt verschwinden. Viele Unternehmen schließen einfach ohne Insolvenz, andere werden aufgekauft oder fusionieren. Tatsächlich schließen sehr viel mehr Unternehmen ohne Insolvenz, als Unternehmen eine Insolvenz anmelden. Zum Beispiel treten jährlich etwa 9% aller Betriebe, die höchstens zwei Jahre alt sind, ohne Insolvenz aus dem Markt aus, während dies nur 2% über den Weg der Insolvenz tun.3
Was ist also das Besondere an Insolvenzen? Der Hauptunterschied zwischen den Marktaustrittsformen besteht darin, dass ein Marktaustritt ohne Insolvenz nicht immer ein Scheitern des Unternehmens als Ursache hat und oft freiwillig geschieht. Eine fehlende Unternehmensnachfolge oder schlicht bessere Verdienstmöglichkeiten als Angestellter einer anderen Firma sind mögliche Gründe.4 Viele Unternehmer bezeichnen ihr Unternehmen nach einer solchen Schließung sogar als Erfolg.5 Der Marktaustritt über den Weg der Insolvenz ist hingegen ein starkes Zeichen für ökonomisches Scheitern. Dies zeigt sich auch daran, dass Austritten ohne Insolvenz oft eine mehrjährige geordnete Schrumpfungsphase vorweggeht, während insolvente Unternehmen sich bis zum Schluss gegen den Austritt stemmen.6
Das Interesse an Insolvenzen ergibt sich also zum einen daraus, dass sie ein sehr aktueller und gut messbarer Indikator für ökonomisches Scheitern sind. Zum anderen bergen massenhafte Insolvenzen die Gefahr von Ansteckungseffekten bis hin zu Bankenkrisen.7 Ein weiterer wichtiger Grund sind die mit Insolvenzen oft verbundenen Arbeitsplatzverluste, die für die betroffenen Beschäftigten mit hohen und über Jahre anhaltenden Einkommens- und Lohnverlusten verbunden sein können.8
Das Insolvenzgeschehen seit Ausbruch der Pandemie
Vor Ausbruch der Corona-Krise befand sich die deutsche Wirtschaft am Ende eines fast zehnjährigen Höhenflugs. Dies und die seit vielen Jahren rückläufige Zahl von jungen Unternehmen hatte zu einem starken Rückgang der Insolvenzzahlen bis zum Jahr 2019 geführt. In dieses insgesamt stabile Umfeld platzte im Frühjahr 2020 die Corona-Krise. Entgegen der ökonomischen Logik lag die Zahl der Insolvenzen im Jahr 2020 trotz Krise deutlich unter dem Vorjahreswert.9 Für die Personen- und Kapitalgesellschaften misst der IWH-Insolvenztrend10 für die von der Corona-Krise erfassten Monate April 2020 bis März 2021 einen Rückgang von 15% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ein Trendanstieg am aktuellen Rand ist nicht zu beobachten, auch in den Monaten April und Mai 2021 bleiben die Zahlen niedrig (vgl. Abbildung 1).
Die paradoxe Situation von weniger Insolvenzen in der Krise kann in erster Linie durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen und abwartendes Verhalten der Unternehmen erklärt werden.11 Viele Unternehmen konnten vor der Krise über einen langen Zeitraum Reserven aufbauen. In der Hoffnung auf ein baldiges Ende der Krise und den Nach-Corona-Boom, die zum Beispiel durch enorm gestiegene Ersparnisse der Haushalte im Jahr 2020 genährt wird,12 haben sich offenbar viele Unternehmen für ein Abwarten und die Hinnahme vorübergehender Verluste entschieden. Das Kurzarbeitergeld in seiner derzeit besonders großzügigen Ausgestaltung – etwa mit Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge – dürfte zu dieser Entscheidung wesentlich beigetragen haben, vor allem, weil Fachkräftemangel in absehbarer Zeit wieder das dominierende Thema am Arbeitsmarkt sein dürfte und viele Unternehmen daher ihre eingearbeitete Belegschaft halten wollen. Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht – im Wesentlichen von Ende März bis Ende September 2020 – war kurzfristig wichtig für die Stabilisierung der Wirtschaft. Sie scheint auch nicht zu einem massiven Aufstauen der Insolvenzen geführt zu haben.
Großinsolvenzen entscheidend für Beschäftigungsverluste
Der bloße Fokus auf die Anzahl der Insolvenzen verstellt jedoch den Blick auf die extreme Heterogenität der insolventen Unternehmen. Da die überwiegende Mehrheit der insolventen Unternehmen nur eine Handvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, wird die volkswirtschaftliche Bedeutung des Insolvenzgeschehens maßgeblich von wenigen sehr großen Unternehmen geprägt. Der IWH-Insolvenztrend zeigt für das Jahr 2020 besonders viele von Insolvenz betroffene Beschäftigte zu Beginn der Krise. So waren in den Monaten Mai bis September jeweils mehr als doppelt so viele Jobs betroffen wie zu Beginn des Jahres (vgl. Abbildung 2). Bezogen auf die Zahl der betroffenen Beschäftigten war 2020 somit trotz niedriger Insolvenzzahlen ein schwieriges Jahr.
Aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung ist ein besonderer Blick auf die Größenverteilung der Insolvenzen wichtig. In den größten 10% der insolventen Unternehmen im IWH-Insolvenztrend arbeiteten im Jahr 2020 zusammengenommen etwa 135 000 Menschen, ein Vielfaches aller Beschäftigten in den übrigen 90% der Unternehmen.13 Die größten unter den kleinsten 90% der Unternehmen (also das 90. Perzentil der Größenverteilung) hatten im Durchschnitt nur 23 Beschäftigte. Die größten 10% der insolventen Unternehmen beschäftigten hingegen immerhin durchschnittlich 130 Personen.
Auch innerhalb der größten 10% der Unternehmen besteht eine erhebliche Heterogenität (vgl. Abbildung 3). So beschäftigten drei Viertel dieser größeren Unternehmen weniger als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (senkrechte Linie in Abbildung 3), insgesamt waren es 35 000 Beschäftigte. Das oberste Viertel der größeren Unternehmen, also die oberen 2,5% bezogen auf alle insolventen Unternehmen des Jahres 2020, beschäftigten allein 100 000 Menschen.
Großinsolvenzen sind aber nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass besonders viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Eine jüngst zur Veröffentlichung angenommenen IWH-Studie14 zeigt, dass Lohnverluste nach der Schließung insolventer Kleinbetriebe gering sind. Allerdings müssen Menschen, die ihre Arbeit aufgrund der Insolvenz von Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten verlieren, über viele Jahre hinweg hohe Lohneinbußen hinnehmen. Der Hauptgrund dafür ist, dass diese Betroffenen oft in Betriebe wechseln müssen, die ihre Mitarbeitenden generell schlechter bezahlen. Abschreibungen auf das Humankapital der Beschäftigten spielen hingegen keine große Rolle.
Welche Insolvenzentwicklung ist für die zweite Hälfte des Jahres 2021 zu erwarten?
Während vorläufige Zahlen des Statistischen Bundesamtes für die erste Jahreshälfte 2021 einen wohl vorübergehenden Anstieg bei der Zahl der Insolvenzen von Selbstständigen und Kleinstunternehmen zeigen, gibt die IWH-Insolvenzforschungsstelle für die Monate April bis Mai 2021 bereits Entwarnung und berichtet bei Personen- und Kapitalgesellschaften Zahlen unterhalb des Vorkrisenniveaus. Eine darüberhinausgehende Prognose ist aufgrund der unklaren Entwicklung der Pandemie, Änderungen im Insolvenzrecht sowie der befristeten und auf bestimmte Branchen bezogenen Aussetzung der Antragspflicht schwierig. Klassische ökonomische Prognosemodelle, die die künftige Entwicklung auf Basis von Zusammenhängen in der Vergangenheit vorhersagen und die Spezifika dieser Krise naturgemäß nicht berücksichtigen können, liefern in dieser Gemengelage Ergebnisse, die mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Zu einem gewissen Maße müssen Politik und Wissenschaft also „auf Sicht“ fahren.
Ein Dammbruch im Sommer, bei dem innerhalb kurzer Zeit viele zehntausend oder gar hunderttausend Jobs durch Insolvenzen gefährdet sind, ist aber unwahrscheinlich. Zum einen läuft das ausgeweitete Kurzarbeitergeld noch bis Ende 2021, zum anderen dürfte nicht zuletzt aufgrund der in Fahrt gekommenen Impfkampagne das Jahr 2021 ein wirtschaftlich gutes Jahr mit Nachholeffekten für die meisten Branchen werden. Angeschlagene Unternehmen werden in der Hoffnung auf den Nach-Corona-Boom weiterhin versuchen, die nächsten Monate irgendwie zu überbrücken.
Für den Fall, dass sich doch eine Insolvenzwelle aufbaut, kann und wird die Politik im Wahljahr 2021 reagieren. Die wiederholte Ausdehnung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht im Januar 2021 sowie die frühzeitige Verlängerung des Kurzarbeitergelds im Spätsommer 2020 sind klare Signale in diese Richtung. Jüngst wurde die Überbrückungshilfe III bis Ende September verlängert.
Trotz wichtiger Stabilisierungseffekte in kurzer Frist bergen die staatlichen Stützungsmaßnahmen das mittel- und langfristige Risiko, dass immer mehr an sich unrentable Unternehmen – so genannte Zombieunternehmen – am Markt verbleiben und somit Ressourcen blockieren, die zukunftsfähigen Unternehmen vor allem im Nach-Corona-Boom fehlen. Auch wenn das im Moment vielen als zweitrangiges Problem erscheinen mag, braucht Deutschland auch nach Ende der Pandemie starke Produktivitätsimpulse, um mit dem demographischen Wandel und dem Klimawandel fertig werden zu können. Zombieunternehmen sind der natürliche Feind des Produktivitätswachstums. Die Politik ist daher gut beraten, mit dem Ausstieg aus den Hilfsprogrammen frühzeitig zu beginnen und gleichzeitig ein erneutes Aufflammen der Pandemie im Herbst 2021 unter allen Umständen zu verhindern.
Endnoten
1 Dieser Beitrag basiert auf Müller, S.: Insolvenzen in der Corona-Krise. IWH Policy Notes 2/2021. Halle (Saale) 2021. Steffen Müller leitet die Abteilung Strukturwandel und Produktivität am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und die dort angesiedelte Insolvenzforschungsstelle. Der Autor dankt Daniel Fackler, Oliver Holtemöller und Stephan Madaus für hilfreiche Kommentare.
2 Das Statistische Bundesamt weist den Anteil der insolventen Unternehmen mit beendetem Insolvenzverfahren aus, die nach Insolvenzeröffnung zunächst fortgeführt wurden. Dieser Anteil liegt beispielsweise bei im Jahr 2011 eröffneten Verfahren im einstelligen Prozentbereich (vgl. Statistisches Bundesamt: Unternehmen und Arbeitsstätten. Beendete Insolvenzverfahren und Restschuldbefreiung. Fachserie 2, Reihe 4.1.1, Tabelle 4. Wiesbaden 2018.
3 Müller, S.; Stegmaier, J.: Economic Failure and the Role of Plant Age and Size, in: Small Business Economics, Vol. 44 (3), 2015, 621–638.
4 Für eine tiefere Diskussion von Marktaustrittsgründen vgl. ebenda.
5 Vgl. Bates, T.: Analysis of Young, Small Firms that Have Closed: Delineating Successful from Unsuccessful Closures, in: Journal of Business Venturing, Vol. 20 (3), 2005, 343–358.
6 Vgl. Fackler, D.; Müller, S.; Stegmaier, J.: Plant-level Employment Development before Collective Displacements: Comparing Mass Layoffs, Plant Closures and Bankruptcies, in: Applied Economics, Vol. 50 (50), 2018, 5416–5435.
7 Vgl. Gropp, R. E.; Koetter, M.; McShane, W.: The Corona Recession and Bank Stress in Germany. IWH Online 4/2020. Halle (Saale) 2020.
8 Vgl. Fackler, D.; Müller, S.; Stegmaier, J.: Explaining Wage Losses after Job Displacement: Employer Size and Lost Firm Wage Premiums, in: Journal of the European Economic Association, im Erscheinen.
9 Basierend auf der wirtschaftlichen Entwicklung des Jahres 2020 berechnet Holtemöller, O.: Unternehmensinsolvenzen in Deutschland im Zuge der Corona-Krise, in: IWH, Wirtschaft im Wandel, Vol. 27 (1), 2021, 5–11, dass die Zahl der Insolvenzen ohne staatliche Hilfsmaßnahmen im Jahr 2020 höher als im Jahr 2019 ausgefallen wäre.
10 Der IWH-Insolvenztrend wird monatlich aktualisiert und auf der Internetseite der IWH-Insolvenzforschungsstelle veröffentlicht. Dort finden sich auch Erläuterungen zur Datengrundlage und zur Methodik.
11 Holtemöller O.; Muradoglu, Y.: Corona Shutdown and Bankruptcy Risk. IWH Online 3/2020, Halle (Saale) 2020 schätzen, dass der Corona- Shutdown im Frühjahr 2020 ohne Staatshilfen den überwiegenden Teil der Unternehmen in den betroffenen Sektoren in existenzielle Bedrängnis gebracht hätte.
12 Vgl. Gropp, R. E.; McShane, W.: Why Are Households Saving so much During the Corona Recession? IWH Policy Notes 1/2021. Halle (Saale) 2021.
13 Zahlen zur Beschäftigung in insolventen Unternehmen kommen aus den Unternehmensdaten von Bureau van Dijk und beziehen sich in der Regel auf das Jahr vor der Insolvenz. Da Unternehmen oft bereits vor der Insolvenz schrumpfen, sind Vorjahreswerte geeigneter, um die Größe des Unternehmens abzubilden. Aus konsolidierten Konzernbilanzen insolventer Unternehmen rechnet das IWH nicht insolvente Tochtergesellschaften und Gesellschaften im Ausland heraus. Um möglichst aktuelle Informationen zu verwenden, werden zweimal pro Jahr die jeweils aktuellsten Bureau-van-Dijk-Daten angespielt. Dies kann zu unwesentlichen Änderungen bei den berichteten Beschäftigtenzahlen führen.
14 Vgl. Fackler, D.; Müller, S.; Stegmaier, J.: Explaining Wage Losses after Job Displacement: Employer Size and Lost Firm Wage Premiums, in: Journal of the European Economic Association, im Erscheinen.