Im Fokus: Veränderungen im Städtesystem Russlands: Fortdauernde Tendenz zur Konzentration
Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Russland haben der darauf folgende Transformationsschock und die durch ihn in Gang gesetzten Marktprozesse Veränderungen im Städtesystem bewirkt. Anhand eigens aufbereiteter Daten der amtlichen russischen Städtestatistik geht der Beitrag diesen Veränderungen nach. Wichtigste Erkenntnisse sind die Erhöhung der Konzentration der urbanen Bevölkerung und die Verstärkung der Gegensätze zwischen urbanen Kernen und peripheren Räumen. Für die Zeit etwa ab dem Jahr 2000 darf vermutet werden, dass marktwirtschaftliche Prozesse die Veränderungen im Städtesystem beeinflussen. Hierzu kann die Neue Ökonomische Geographie einen wesentlichen Erklärungsbeitrag leisten, insbesondere vor dem Hintergrund des im Zuge der Preisliberalisierung erfolgten, noch nachwirkenden realen Anstiegs der Kosten des Frachtverkehrs. Diese schützen zum einen die im Zentrum ansässigen Unternehmen vor Wettbewerbern außerhalb der Zentren und verteuern zum anderen die Versorgung der peripheren Regionen. Die Untersuchungsergebnisse stützen die Hypothese, dass steigende Transportkosten die Raumstruktur beeinflussen. Vor dem Hintergrund eines möglichen Energiepreisanstiegs besitzen die Beobachtungen am Städtesystem Russlands daher auch für Deutschland Relevanz.
27. Februar 2014
Mit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft, dem Auseinanderfallen der Sowjetunion, der Marktliberalisierung und der Öffnung des politischen Systems wurden Kräfte freigesetzt, die auch im Städtesystem Russlands eine gestaltende Wirkung entfaltet haben. Es ist das Ziel des vorliegenden Beitrags, die Entwicklung des russischen Städtesystems zwischen den Zensusjahren 1989, 2002 und 2010 zu analysieren und aus der Sicht raumwirtschaftlicher Theorien zu deuten.
Das russische Städtesystem hat in der Sowjetzeit eine Prägung erfahren, die zum einen von dem ideologischen Streben nach Gleichheit, zum anderen von der totalitären Systemen inhärenten hierarchisch-zentralistischen Struktur gekennzeichnet ist. Dabei war die Erschließung der Rohstofflagerstätten Sibiriens und des Fernen Ostens ein wichtiges Ziel der sowjetischen Raumentwicklungspolitik. Es wurden dort aber nicht nur Rohstoffe abgebaut, sondern auch große Verarbeitungskapazitäten geschaffen. Viele dieser Investitionen erwiesen sich schon in sowjetischer Zeit – und erst recht danach – als unrentabel.
Die Neue Ökonomische Geographie liefert einen Erklärungsbeitrag zu den Effekten von Transportkostenänderungen auf das Städtesystem. Im Modell kann z. B. gezeigt werden, dass ein Anstieg der Transportkosten in einem aus einer gewissen Anzahl von Städten bestehenden System Konzentrationstendenzen hervorrufen kann, und zwar einerseits infolge des geringeren Wettbewerbsdrucks auf das Zentrum, und andererseits aufgrund der teureren Versorgung der Peripherie.
Im folgenden empirischen Teil des Beitrags werden zunächst die Veränderungen der Verteilung der Stadtbevölkerung auf die Städte beschrieben. Daran anschließend werden die Beziehungen von Größen-, Zentralitäts- und geographischen Attributen der Städte zu deren Bevölkerungswachstum analysiert. Am Ende des Beitrags wird versucht, die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zu verallgemeinern.
Die verwendeten Städtedaten wurden den Veröffentlichungen der amtlichen russischen Statistik für die Jahre 1989, 2004 und 2010 entnommen und für die wissenschaftliche Analyse aufbereitet. In den folgenden Zwei-Perioden-Vergleich wurden jene 2 318 Städte und Siedlungen städtischen Typs einbezogen, für die Angaben zu allen drei Zeitpunkten vorliegen.
Tendenz zur Konzentration in den großen Städten in ganz Russland
Zwischen den Jahren 1989 und 2004 ging die Gesamtbevölkerung aller 2 318 einbezogenen Städte leicht zurück (vgl. Tabelle). Entsprechend sind Modus, Median und arithmetisches Mittel der Einwohnerzahlen gefallen. Nach 2004 stieg die Gesamteinwohnerzahl der einbezogenen Städte
– folglich auch deren arithmetisches Mittel – wieder an. Im Gegensatz hierzu sind Modus und Median jedoch weiter gefallen, d. h. die Bevölkerungs-
zunahme kam vor allem den großen Städten zugute. Daten zum natürlichen Bevölkerungswachstum der großen Städte belegen, dass dieses nur in wenigen Städten z. B. des Kaukasus und Westsibiriens maßgeblich am Wachstum beteiligt ist. Die gegensätzliche Entwicklung der Mittelwerte ist somit der stärkeren Zuwanderung in die großen Städte geschuldet. In der Tat wuchsen unter den Millionenstädten in der ersten hier betrachteten Periode außer Moskau lediglich Rostow am Don, Kasan und Wolgograd. In allen anderen der 13 Millionenstädte ging die Bevölkerung in dieser Zeit zurück. In der zweiten Periode hingegen sind alle Millionenstädte mit Ausnahme von Wolgograd, Nischni-Nowgorod und Perm gewachsen; auch hat sich das Schrumpfen der Städte zwischen einer halben und einer Million Einwohner verringert, bzw. sind einige dieser Städte wieder (oder sogar stärker) gewachsen. Dass die großen Städte beständig zu Lasten der kleinen wachsen, zeigt sich auch im kontinuierlichen Anstieg der Konzentrationsmaße Herfindahl-Koeffizient und Gini-Koeffizient.
Die Veränderungen werden auch anhand der folgenden Abbildungen deutlich, in denen das Wachstum der in Klassen eingeteilten Städte dargestellt wird, und zwar nach Größe (a), Entfernung zum regionalen Zentrum (b), geographischer Länge (c) und geographischer Breite (d). Die geographischen Koordinaten bilden vor allem die Distanzen, aber auch z. B. klimatische Unterschiede sowohl in Ost-West- als auch in Nord-Süd-Richtung ab. In den Randklassen zeigen sich extreme Wachstumsraten eher 1989 bis 2004 als 2004 bis 2010.
Abbildung (a) verdeutlicht das stärkere Wachstum der großen Städte insbesondere nach 2004. Abbildung (b) zeigt, dass die zentralen Orte und die in ihrer Umgebung gelegenen Städte im Mittel stärker wachsen als die von den regionalen Zentren weiter entfernen Orte: Während das Wachstum der Hauptstädte der russischen Regionen im Mittel positiv war, sind in den von diesen entfernteren Städten starke und mit der Entfernung zunehmende Bevölkerungsrückgänge erkennbar, was ebenfalls ein deutliches Kern-Peripherie-Muster in den Regionen erkennen lässt. Das stärkere Wachstum der den Zentren unmittelbar benachbarten Städte ist vor allem darauf zurückzuführen, dass einige Agglomerationen des europäischen Russland (insbesondere Moskau) weit über die administrativen Grenzen ihrer Kernstädte hinausgewachsen sind.
Bevölkerungsrückzug aus dem Norden und dem Osten
Die in Abbildung (c) und (d) dargestellten Relationen zwischen geographischer Länge bzw. Breite zeigen einen deutlich negativen Trend der Wachstumsraten von West nach Ost wie auch von Süden nach Norden. Zudem werden jedoch deutliche Abweichungen von einem einfachen Ost-West- bzw. Nord-Süd-Muster sichtbar. Das im Mittel hohe Bevölkerungswachstum der Städte um den
47. Längengrad bildet das Wachstum der südrussischen Städte (etwa 42 Grad südlicher Breite) ab und geht vermutlich auf ethnische Besonderheiten (vor allem im Kaukasus), aber auch das wärmere Klima zurück. Auch im Bereich des 75. Längengrads (ab 2004 auch des 57. Breitengrads) ist ein überdurchschnittliches Wachstum der Städte zu erkennen. Hier befindet sich das westsibirische Öl- und Gasfördergebiet, dessen gute Verdienstmöglichkeiten vor allem junge Menschen anziehen.
Aus der durchgeführten Analyse können vorsichtige Schlüsse gezogen werden: Sollten die größten Städte Russlands weiter wachsen, werden in diesen Städten aufgrund der Zuwanderung die Kosten der Raumnutzung, die Wahrscheinlichkeit von Staus und die Belastung der Umwelt steigen. Dies wird Anpassungsreaktionen hervorrufen, die zu neuen Wanderungsgleichgewichten führen werden. Dass das Wachstum der Mehrzahl der Millionenstädte erst im zweiten Zeitabschnitt einsetzt, lässt sich in diesem Sinne interpretieren, verbunden mit der Prognose des zukünftig stärkeren Wachstums der Großstädte unter einer Million Einwohner. Nach den Aussagen der Neuen Ökonomischen Geographie wird der Bevölkerungsrückgang der kleinen Städte und Siedlungen vor allem in den peripheren Regionen Russlands weiter anhalten. Im Norden und im Fernen Osten manifestiert sich diese Entwicklung darin, dass zahlreiche Siedlungen bereits aufgegeben wurden. Allerdings darf dieser Trend nicht bedenkenlos auf andere Regionen Russlands übertragen werden.
Konzentration als Folge gestiegener Transportkosten?
Die Veränderungen entsprechen den theoretischen Erwartungen insbesondere aus Sicht der Neuen Ökonomischen Geographie, die bei steigenden Kosten des Gütertransports ein stärkeres Wachstum der großen wie auch der zentralen Städte prognostiziert. Zwar war in den 1990er Jahren die Rückwanderung großer Bevölkerungsteile aus den in sowjetischer Zeit erschlossenen Gebieten im Osten und Norden des Landes eher ein Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion als eines Marktprozesses. Nach der Finanzkrise 1998, die einen Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung bedeutete, hat sich Russland jedoch stärker zu einer Marktwirtschaft entwickelt, die mit anderen Volkswirtschaften mit mittleren Einkommen vergleichbar ist und in diesem Sinn als „normal“ bezeichnet werden kann. Die Relationen zwischen Größe, zentraler Lage sowie Nord-Ost-Randlage einerseits und den Bevölkerungswachstumsraten der Städte im Zeitraum von 2004 bis 2010 andererseits zeigen, dass auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen die Tendenz zur Konzentration anhält. Dieses Ergebnis könnte auch für westliche Länder Bedeutung erlangen, wenn es (z. B. in Folge eines Anstiegs der Energiepreise) zum Ansteigen der Kosten des Güterverkehrs kommt. Die auch in Deutschland bereits zu beobachtenden Tendenzen des Bevölkerungsrückzugs aus peripheren kleinen Orten wie auch des vermehrten Zuzugs in Ballungsräume würden sich dann verstärken.