Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?
Am 12. November 2024 hörte das Bundesverfassungsgericht Argumente zu einer Klage einiger FDP-Abgeordneter gegen den Solidaritätszuschlag. IWH-Präsident Reint Gropp war als Sachverständiger geladen und gibt in diesem Beitrag seine Einschätzung zur Thematik wieder.
23. Dezember 2024
https://doi.org/10.18717/wwmj6m-bj39
Am 12. November 2024 hörte das Bundesverfassungsgericht Argumente zu einer Klage einiger FDP-Abgeordneter gegen den Solidaritätszuschlag. Das Argument der Kläger ist, dass keine andauernde Sonderbelastung des Bundes durch Folgekosten der Wiedervereinigung besteht. Der Bund erhebt seit dem Jahr 1995 ununterbrochen einen Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe zur Einkommen- steuer und zur Körperschaftsteuer. Mit dem Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags vom Dezember 2019 wurde für das Jahr 2020 der Zuschlag unverändert weitererhoben, und ab dem Jahr 2021 wurden die Freigrenzen drastisch angehoben: auf gegenwärtig 18 130 Euro Einkommensteuerbelastung pro Jahr bei Alleinstehenden bzw. auf 36 260 Euro pro Jahr bei Verheirateten, wodurch rund 90% der Zahler der veranlagten Einkommensteuer und der Lohnsteuer nicht mehr mit dem Solidaritätszuschlag belastet werden sollten. Die Steuer wird seitdem nur noch von höheren Einkommensbeziehern und Unternehmen entrichtet.
Das Gericht hat dabei eine Reihe von miteinander verbundenen Entscheidungen zu treffen. Erstens: Braucht ein Zuschlag auf die Einkommen- oder Körperschaftsteuer einen konkreten Finanzierungsbedarf oder kann der Staat diese Art von Zuschlägen auch dann noch erheben, wenn kein konkreter Bedarf identifiziert werden kann? Zweitens: Wenn die Notwendigkeit eines Bedarfs besteht, gibt es auch heute und in den nächsten Jahren noch Kosten, die direkt auf die deutsche Einheit zurückzuführen sind.
Ich wurde als Experte zusammen mit einem Vertreter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) zur zweiten Frage gehört. Das DIW hat zu der Frage der andauernden Sonderbelastungen des Staates einen Bericht verfasst, in dem es die überproportionalen Ausgaben des Bundes bis 2030 schätzt, die noch auf die Wiedervereinigung zurückzuführen sind. Dabei kommt das DIW bis 2030 auf relativ konstant 13 Milliarden Euro pro Jahr, was mehr oder minder den zu erwartenden Einnahmen im gleichen Zeitraum aus dem Solidaritätszuschlag entspricht. Das Fazit des DIW: Der Solidaritätszuschlag ist weiterhin aufgrund der anhaltenden zusätzlichen Kosten für die Wiedervereinigung gerechtfertigt.
Wenn man sich die wichtigsten Posten in der Berechnung des DIW im Detail anschaut, kann man allerdings auch zu einem ganz anderen Schluss kommen. Die vom DIW identifizierten Belastungen setzten sich aus drei Hauptkomponenten zusammen: Belastungen, die sich aus den geringeren Beitragszahlungen in Ostdeutschland in die Rentenversicherung ergeben (rund acht Milliarden Euro), Belastungen, die sich aus zusätzlichem Investitionsbedarf in Ostdeutschland ergeben (rund zwei Milliarden Euro) und Belastungen, die sich aus der relativ schwächeren Finanzkraft der ostdeutschen Kommunen ergeben (rund drei Milliarden Euro). Natürlich sind die geringeren Einzahlungen in die Rentenversicherung und die geringere Finanzkraft der Kommunen eine Konsequenz der durchschnittlich schwächeren Wirtschaftsleistung. Allerdings reicht eine schwache Wirtschaftsleistung in Teilen Ostdeutschlands nicht aus, um einen Bedarf des Staates, der sich aus der Wiedervereinigung ergibt, zu rechtfertigen. Dafür braucht es einen kausalen Zusammenhang. Die niedrigen Einzahlungen in die Sozialversicherung sowie die geringere Finanzkraft der Kommunen sind in der Tat eine direkte Konsequenz der Wiedervereinigung, da ursächlich für beide Punkte überwiegend die Abwanderung von über zwei Millionen Menschen nach Westdeutschland im Zuge der Wiedervereinigung ist. Diejenigen, die abgewandert sind, waren überwiegend im arbeitsfähigen Alter und disproportional viele junge Frauen. Somit wirkt dieser Effekt über die schlechtere Demographie nach. Das bedeutet aber eben auch, dass dem niedrigeren Steueraufkommen im Osten und den niedrigeren Einzahlungen in die Rentenversicherung im Osten proportionale (oder vielleicht sogar überproportionale) Mehreinnahmen im Westen gegenüberstehen müssen. Dem Nachteil des Ostens steht in diesem Fall also der Vorteil des Westens gegenüber. Daher kann mit diesen Argumenten eine Umverteilung von West nach Ost, aber kein zusätzlicher Finanzbedarf des Bundes begründet werden.
Insgesamt kann man den Solidaritätszuschlag nur noch sehr schwer mit Mehrausgaben des Bundes begründen, und er sollte aus dieser Sicht tatsächlich verfassungswidrig sein. Ich hatte den Eindruck, dass das auch das Verfassungsgericht so sah. Allerdings gibt es da noch die wichtige juristische Frage zu untersuchen, ob ein Mehrbedarf für Zusatzsteuern rechtlich überhaupt notwendig ist. Zu diesem Punkt schienen die Meinungen im Bundesverfassungsgericht geteilt; man wird also abwarten müssen, wie am Ende entschieden wird. Klar ist aber schon jetzt, dass es transparenter wäre, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen und stattdessen die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer entsprechend anzupassen, wenn man denn die Einnahmen braucht. Gerade auch aus ostdeutscher Sicht wäre es ein wichtiges Signal, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, auch um den Mythos von Ostdeutschland als Opfer, dem Westdeutschland Almosen geben muss, endlich zu Grabe zu tragen. Inzwischen ist es ja auch so, dass die am schnellsten wachsenden Regionen (wie der Raum Leipzig oder Berlins Umland in Brandenburg) in Ostdeutschland liegen.