Kommentar: Manövriert sich die EZB in eine Falle?
Die EZB hat am 22. Januar 2015 beschlossen, in großem Umfang Anleihen öffentlicher Institutionen aus dem Euroraum, darunter auch der Nationalstaaten, zu kaufen. Es gibt gute Gründe für diese Maßnahme: Marktbasierte mittelfristige Inflationserwartungen sind zuletzt deutlich gesunken, die Inflationsrate ist tendenziell rückläufig und war zuletzt sogar negativ. Die Wahrscheinlichkeit einer deflationären Spirale hat sich erhöht, mit unabsehbaren Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung. Die schwache Verbraucherpreisentwicklung im Euroraum basiert auf mehreren Faktoren: der schleppenden Konjunkturentwicklung, fallenden Ölpreisen und fiskalpolitischer Konsolidierung in einigen Euroländern (Spanien, Portugal, Irland).
19. Februar 2015
Normalerweise würde eine Zentralbank in diesem Umfeld die Leitzinsen senken. Aufgrund der Nullzinsschranke ist dieser Weg im Euroraum jedoch derzeit versperrt. Die Erfahrungen in den USA und Großbritannien haben gezeigt, dass in dieser Situation Anleihekäufe eine Alternative sein können, um Inflationserwartungen im positiven Bereich zu verankern, insbesondere dann, wenn nicht nur Staatspapiere, sondern auch Unternehmensanleihen oder verbriefte Kredite gekauft werden. Aufgrund des illiquiden und kleinen Marktes für verbriefte Kredite im Euroraum ist der Spielraum für Käufe in diesem Markt für die EZB allerdings begrenzt.
Darüber hinaus enthalten im Euroraum (aber nicht in den USA) auch die Umlaufrenditen einiger Staatsanleihen erhebliche Risikoprämien; die Rendite zehnjähriger Anleihen Italiens oder Spaniens liegt mehr als einen Prozentpunkt über der Rendite vergleichbarer deutscher oder französischer Papiere. Das ist wünschenswert, um bei diesen Ländern Budgetdisziplin zu erzeugen, aber es schlägt auch auf die Kreditzinsen der Unternehmen in diesen Ländern durch. Das Anleihekaufprogramm senkt die Risikoprämien und damit auch die Kreditzinsen in der Privatwirtschaft, so jedenfalls die Hoffnung der EZB. Das heißt, die Zentralbank betritt geldpolitisch für Europa Neuland, aber insgesamt ist ihre Entscheidung im gegenwärtigen Umfeld nachzuvollziehen.
Langfristig könnte die EZB sich allerdings in eine Falle manövrieren, nämlich dann, wenn die Regierungen im Euroraum die sinkenden Zinsen für zusätzliche Staatsschulden ausnutzen, statt weitere Strukturreformen einzuleiten. Eine solche expansive Fiskalpolitik dürfte die Konjunktur zwar kurzfristig anregen und wäre damit durchaus im Sinne der EZB, die inflationären Tendenzen zu verstärken und Deflation zu vermeiden. Das heißt aber auch, dass die Regierungen darauf spekulieren, dass die EZB mittelfristig für die Tragbarkeit der Schulden sorgt. Diese Spekulation birgt extremen wirtschaftspolitischen Zündstoff: Im Erfolgsfall der gegenwärtigen Geldpolitik (eine Inflationsrate von 2% im Euroraum) wäre die EZB aus geldpolitischer Sicht gezwungen, die Ausweitung ihrer Bilanz zurückzufahren (also Staatsanleihen zu verkaufen) und den Leitzins zu erhöhen. Wenn aber einige Mitgliedsländer die Zeit niedriger Zinsen nicht genutzt haben, um strukturelle Reformen durchzuführen und die öffentliche Verschuldung zu senken, könnte das bei diesen Mitgliedsländern zu ernsthaften fiskalischen Problemen führen. Die EZB könnte dann unter politischen Druck geraten, die hohe Verschuldung geldpolitisch weiter zu akkommodieren und dabei signifikant nach oben von ihrem Inflationsziel abzuweichen.
Die EZB genießt juristisch aufgrund des AEUV-Vertrags große Unabhängigkeit von der Politik. Wenn genug Mitgliedsländer in Schwierigkeiten wären, könnte diese Unabhängigkeit jedoch ernsthaft in Gefahr geraten – mit unabsehbaren langfristigen Folgen für die makroökonomische Stabilität im Euroraum. Die Verantwortung für den nachhaltigen Erfolg des Euro liegt somit nach der Ankündigung des Staatsanleiheprogramms durch die EZB mehr denn je in den Händen der nationalen Regierungen im Euroraum.