Niedrige Soziale Mobilität in Deutschland: Wo liegen die Ursachen?
Weiterhin gilt in Deutschland: Für den Bildungserfolg ist es nicht entscheidend, was ein Kind kann, sondern woher es kommt. Die soziale Herkunft eines Kindes bestimmt in hohem Maße dessen Bildungsniveau, beruflichen Erfolg und Einkommen. Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamts vom letzten Jahr zeigt, dass 61% der unter 15-Jährigen, deren Eltern selbst einen hohen Bildungsabschluss haben, 2015 ein Gymnasium besuchten, während dies nur für 14% der Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Bildungsabschluss gilt. Empirische Studien belegen: Kinder mit einem bildungsfernen Familienhintergrund können in Deutschland nur mit einer deutlich niedrigeren Wahrscheinlichkeit als etwa in skandinavischen Ländern (Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden) und einer ähnlich hohen Wahrscheinlichkeit wie in den USA sozial aufsteigen.
21. Dezember 2017
Dadurch, dass die Bildungsmobilität in Deutschland so schlecht ist, bleiben viele unter ihrem Potenzial – zum- Schaden von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. Die demographische Situation verschärft das Problem: Bis zum Jahr 2030 – so die Arbeitsmarktprognose 2030 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – wird der Arbeitsmarkt zunehmend durch die Engpässe im Arbeitsangebot von höher Qualifizierten bestimmt sein. Um Handlungsalternativen zu entwickeln, muss man zunächst die Ursachen für das Phänomen verstehen. Aus den aktuellen Ergebnissen der Bildungsforschung und der öffentlichen Debatte lassen sich drei mögliche Hauptgründe für die niedrige Bildungsmobilität in Deutschland ableiten. Erstens: Die staatlichen Ausgaben für Bildung in Deutschland liegen bei unter 4% des Bruttoinlandsprodukts und damit unter dem EU-Schnitt und weit unter den Spitzenländern Dänemark, Finnland, Belgien und Schweden. Allerdings möge man sich von der Vorstellung freihalten, die Höhe der Ausgaben allein sei maßgeblich; natürlich spielt – und dies zeigt die Empirie eindrucksvoll – eine große Rolle, wie und wofür die Mittel ausgegeben werden.
Zweitens: Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland mit seiner frühen Aufteilung auf die verschiedenen weiterführenden Schultypen zementiert durch eine Art „Etikettierung“ der Schüler hinsichtlich ihres Potenzials und ihrer Zukunftserwartungen in einem sehr frühen Alter eine nachfolgende tiefere Segregation. IGLU- und PISA-Ergebnisse zeigen, dass sowohl Eltern als auch Lehrer die Leistungspotenziale von Kindern aus unterschiedlichen Bildungsschichten per se unterschiedlich einschätzen. Das führt trotz gleicher Kompetenzen zu ungleichen Entscheidungen über die Bildungswege je nach Herkunft. Jedoch zeigt die empirische Evidenz, dass das dreigliedrige Schulsystem wohl nicht das Hauptproblem ist. In Bayern – dem Bundesland, in dem die frühe Aufteilung auf Gymnasium, Realschule und Hauptschule wohl am konsequentesten durchgeführt wird – ist die Korrelation zwischen dem Bildungsniveau der Eltern und dem Schulerfolg der Kinder geringer als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, wo die Aufteilung auf verschiedene Schultypen später und weniger konsequent erfolgt.
Drittens: Deutsche Schulen unterscheiden sich in einem entscheidenden Punkt von den Schulen in vielen anderen Ländern: Sie konzentrieren sich auf die Vermittlung von Wissen in den klassischen Schulfächern (Mathematik, Deutsch, Englisch etc.). Alle sozialen und sportlichen Aktivitäten, aber auch die Hausaufgabenbetreuung, müssen von den Eltern organisiert werden und finden außerhalb der Schule statt. Dadurch werden soziale und ökonomische Unterschiede der Familien für Lernerfolg und Kompetenzerwerb besonders relevant. Mit einem ganzheitlicheren Bildungsauftrag an die Schulen erhalten Kinder dagegen unabhängig von ihrer Herkunft Möglichkeiten, sich in nicht-schulischen bzw. nichtakademischen Aktivitäten weiterzuentwickeln, eigene Potenziale und Stärken zu erkennen, Kompetenzen zu stärken sowie auch und insbesondere Kontakte außerhalb „ihrer eigenen“ Bildungsschicht zu knüpfen.
Wir empfehlen daher ein Umdenken: Schulen sollten auch „außerschulische“ Aktivitäten anbieten. Keineswegs geht es darum – dies kann nicht deutlich genug betont werden –, die Schüler womöglich den lieben langen Tag lang nur zu „verwahren“, das Gegenteil ist der Fall: Die Schüler sollen innerhalb der Schule ein vielseitiges und interessantes „Freizeitangebot“ vorfinden, sodass Talente, die verschiedene Ausprägungen haben können, erkannt und gefördert werden können – unabhängig vom sozialen Status des Elternhauses. Wir sind der Überzeugung, dass dies die Chancengleichheit in Deutschland erhöhen und die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Elternhaus reduzieren könnte – zum Wohle von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt.