Wirtschaftliche Folgen des Gaspreisanstiegs für die deutsche Industrie
Die Gaspreise haben sich in Deutschland infolge des Lieferstopps russischen Erdgases deutlich erhöht, mit möglichen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Wir berechnen den Gasverbrauch auf Produktebene für die Zeit vor der Energiekrise mit Hilfe der Mikrodaten der amtlichen Statistik, um zielgenau abschätzen zu können, bei welchen Produkten eine Drosselung der Produktion zur maximalen Gaseinsparung bei minimalen wirtschaftlichen Verlusten führen würde. Die Verwendung von Mikrodaten zeigt, dass die Folgen für Umsatz und Wertschöpfung in der Industrie bei Weitem nicht so negativ ausfallen werden wie von vielen befürchtet.
10. März 2023
Bis 2030 sollen die CO2-Emissionen gegenüber 1990 um 65% und bis 2045 um 100% sinken. Seit 1990 hat Deutschland eine Senkung der Emissionen um etwa 40% erreicht. Der Zusammenbruch der DDR-Industrie hat einen guten Teil dazu beigetragen. In den verbleibenden 22 Jahren soll nun der Großteil der Einsparungen geschafft werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde unter anderem der Ausstieg aus der Kohleverstromung beschlossen. Aufgrund des bereits seit längerem beschlossenen und beinahe vollständig vollzogenen Ausstiegs aus der Kernenergie soll der Energieverbrauch zunehmend durch erneuerbare Energien und – als Brückentechnologie – durch Gaskraftwerke gedeckt werden. Mitten hinein in diese Transformationsphase fällt nun der Überfall Russlands auf die Ukraine und in dessen Folge der Lieferstopp russischen Erdgases an Deutschland im Spätsommer 2022.
Der Lieferstopp für russisches Erdgas gefährdet jedoch nicht nur die Erreichung der deutschen Klimaziele, sondern stellt kurzfristig die Energiesicherheit insgesamt infrage. Das Schreckensszenario einer Gasmangellage stand im Raum. Im Fall einer Gasmangellage würden in Stufe 3 des Notfallplans Gas1 Lastenabschaltungen zuerst in der Industrie vorgenommen werden. Haushalte und andere geschützte Kundengruppen würden weiter versorgt. Glücklicherweise ist die Gasmangellage in diesem Winter sehr unwahrscheinlich geworden, auch für den kommen den Winter 2023/24 sind die Aussichten nicht mehr so düster wie noch vor wenigen Monaten.
Aber auch jenseits der akuten Mangellage stellt sich die Frage, welche Folgen die deutlich gestiegenen Gaspreise für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie haben werden. Deutsche Unternehmen zahlen bereits seit längerem im internationalen Vergleich relativ hohe Preise für Strom. Beim Gas lagen die Börsenpreise in den Jahren von 2010 bis 2015 über dem Niveau der USA, jedoch unter dem der asiatischen Wettbewerber. Im Jahr 2020 zahlten deutsche Unternehmen in etwa die gleichen Preise wie amerikanische und asiatische Wettbewerber.2 Die 2022 massiv gestiegenen Preise für Gas verschlechtern die Wettbewerbsbedingungen der deutschen Industrie vor allem gegenüber Wettbewerbern in den USA. Interessenverbände warnen deswegen vor massiven Verwerfungen für die deutsche Industrie.3 Allerdings ist die Gasintensität der Produktion auch innerhalb einzelner Branchen höchst unterschiedlich. Zudem besteht die Möglichkeit, gasintensive Produkte zu importieren. Wie bedrohlich sind die gestiegenen Gaspreise also tatsächlich? Dieser Beitrag fasst die zentralen Befunde einer im Auftrag des Sachverständigenrates für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu diesem Thema verfassten Kurzexpertise des IWH zusammen, die erstmals den Gasverbrauch für die Herstellung einzelner Produkte auswertet.4
Der wesentliche Vorteil solcher Mikrodaten ist, dass die Heterogenität zwischen einzelnen Unternehmen oder Produkten sichtbar gemacht wird. So lassen sich Produkte identifizieren, für die sehr viel Gas verwendet wird. Gleichzeitig können der mit dem Produkt erzielte Umsatz und die geschaffene Wertschöpfung beobachtet werden. Dadurch kann sehr viel genauer nachgezeichnet werden, welche Folgen die Verteuerung von Erdgas auf die Herstellungskosten der gasverbrauchenden Güter hat und wie viel Verlust an Umsatz und Wertschöpfung etwa bei einem Produktionsstopp zu befürchten ist. Je unterschiedlicher die Produkte im Hinblick auf Umsatz, Gasverbrauch und Gasintensität (Gasverbrauch je Euro Umsatz) sind, umso größer ist der Vorteil von Mikrodaten. Unsere Studie erlaubt erstmals ein fein aufgelöstes Bild der Lage auf Basis von ca. 1 600 Produktgruppen.5
Gasverbrauch und Umsatz auf Produktebene: Unsere Methodik
Wir bestimmen den Gasverbrauch auf Produktebene mit Hilfe der Mikrodaten der amtlichen Statistik.6 Diese Mikrodaten enthalten Angaben zur Energieverwendung, insbesondere den Anteil von Gas auf Betriebsebene. Es lassen sich einzelne Produkte identifizieren, für deren Produktion sehr viel Gas verwendet wird. Mikrodaten können daher wertvolle Hinweise liefern, auf welche konkreten Produkte – anstatt ganzer Branchen – der Gasverbrauch entfällt. Daraus lässt sich zielgenau abschätzen, bei welchen Produkten eine Drosselung der Produktion zur maximalen Gaseinsparung bei minimalen ökonomischen Verlusten führen würde. Eine Verknüpfung mit Daten zur Importsubstituierbarkeit erlaubt zudem Aussagen zu den Folgewirkungen auf nachgelagerte Produktionsstufen.
Wir verwenden Daten der Jahre 2015 bis 2017 und stellen die Frage, welche ökonomischen Folgen ein Anstieg der Gaspreise für die deutsche Industrie verglichen mit diesem Basiszeitraum hat. Eine erste Herausforderung bei der Berechnung ist, dass wir den Gasverbrauch nur auf Betriebsebene beobachten können, viele Betriebe aber mehrere Produkte gleichzeitig herstellen. Wir müssen also den Gasverbrauch auf Produktebene approximieren. Um den Gasverbrauch der Betriebe auf die einzelnen Produkte aufzuteilen, sind zwei Konzepte (und Mischformen dieser Konzepte) möglich.
Im Mengenkonzept werden zunächst nur Unternehmen betrachtet, die lediglich ein Produkt herstellen. Für diese Unternehmen lässt sich also der Gasverbrauch exakt einem Produkt zuweisen und die technologische Beziehung zwischen Herstellungsverfahren und Gasverbrauch ermitteln.
Im Umsatzkonzept nutzen wir aus, dass wir den Produktionswert sämtlicher Produkte der einzelnen Betriebe kennen. Anhand der Produktionswerte berechnen wir Umsatzanteile der Produkte und verteilen den Gesamtgasverbrauch der Betriebe gemäß dieser Umsatzanteile auf die Produkte. Wenn also ein Betrieb zwei Produkte, A und B, herstellt und A einen Umsatzanteil von 90% besitzt, dann schreiben wir dem Produkt A 90% des betrieblichen Gasverbrauches zu. Der Vorteil dieses Verfahrens ist, dass es für sämtliche Betriebe und sämtliche Produkte angewendet werden kann.
Die beiden vorgestellten Berechnungskonzepte haben neben den oben genannten Stärken jeweils spezifische Schwächen, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Die Rangfolge der Produkte mit dem höchsten Gasverbrauch ist jedoch bei beiden Verfahren sehr ähnlich.
Das Umsatzkonzept bildet höchstwahrscheinlich nicht exakt die technologische Beziehung zwischen Gasverbrauch und Produktionswert von Produkten ab. Die Berechnungsmethode dürfte dazu führen, dass besonders gasintensive Produkte nicht im gleichen Maße teurer sind, wie sie mehr Gas verbrauchen. Daher unterschätzt das Umsatzkonzept den Gasverbrauch der gasintensivsten Produkte tendenziell (und überschätzt den der weniger gasintensiven Produkte). Durch die Verwendung der Daten zehntausender Unternehmen, von denen zudem viele nur ein Produkt herstellen, dürfte diese Methodik dennoch eine gute statistische Annäherung an den Verbrauch auf Produktebene ermöglichen. Wie im nächsten Abschnitt erläutert, bietet das Verfahren zudem Vorteile bei komplexen Produktionsverfahren.
Die Nachteile des Mengenkonzepts sind, i) dass nicht für alle Produkte die Produktionsmengen vorliegen, ii) dass nicht alle Produkte von mindestens einem Ein-Produkt-Betrieb hergestellt werden und iii) dass wir annehmen müssen, dass das technologische Verhältnis zwischen Gaseinsatz und Produktionsmenge von Ein-Produkt-Betrieben auf alle anderen (und oft größeren) Betriebe übertragbar ist. Geht man davon aus, dass Großbetriebe Gas effizienter einsetzen können, überschätzt das Mengenkonzept den Gasverbrauch.
Im Folgenden wird auf das Umsatzkonzept abgestellt, da hier die konservativeren Ergebnisse im Hinblick auf Gaseinsparpotenziale zu erwarten sind und da für eine größere Palette von Produkten der Gasverbrauch berechnet werden kann.
Kritikpunkte und Grenzen der Interpretierbarkeit
Wie alle Daten, so unterliegen auch unsere Daten Messungenauigkeiten und Unschärfen. Da es sich jedoch um amtliche Mikrodaten handelt, sind aus Antwortverweigerung resultierende Probleme sehr selten. Zudem werden die Daten durch die statistischen Ämter mit erheblichem Aufwand auf Herz und Nieren geprüft. Die Datenqualität ist somit im Vergleich zu anderen Mikrodaten – etwa Unternehmensumfragen – als sehr hoch einzuschätzen. Zuordnungsprobleme ergeben sich jedoch dort, wo wir Außenhandelsdaten auf Produktebene mit den amtlichen Mikrodaten verknüpfen und wo wir – wie oben beschrieben – Gasverbräuche auf Produkte umrechnen.
Ein Problem ist, dass wir Gasverbräuche nicht perfekt so genannten Kuppelprodukten zuordnen können, wie sie etwa in der Chemieindustrie vorkommen. Kuppelproduktion kann beispielsweise bedeuten, dass Gas zur Herstellung von Produkt A eingesetzt wird und dabei sofort oder nach weiteren Verarbeitungsschritten – aber ohne weiteren Gaseinsatz – Produkt B entsteht. Die Einzelprodukte aus Kuppelproduktion müssten statistisch zu einem Produkt zusammengefasst werden, wenn eine getrennte Produktion technisch unmöglich oder unwirtschaftlich ist. Gasverbrauch und Umsatz bezögen sich dann auf das Kuppelprodukt als Ganzes. Da es oft verschiedene Produktionsprozesse für die gleichen Produkte gibt, ist eine solche Aggregation praktisch unmöglich und wir berichten Werte für die Einzelprodukte. Hier zeigt sich jedoch eine weitere Stärke des Umsatzkonzepts, denn es verteilt den Gasverbrauch eines Unternehmens auf alle (Kuppel-)Produkte eines Unternehmens und nicht etwa nur auf das Produkt, für das das Gas tatsächlich eingesetzt wurde (Produkt A im Beispiel). Wenn also ein Unternehmen in Kuppelproduktion produziert, teilt unsere Methode den Gasverbrauch automatisch nach Umsatzanteilen auf diese Produkte auf. Wir messen dadurch unter Umständen nicht die technologische Beziehung zwischen Gasverbrauch und Produktion jedes einzelnen Produkts, aber wir erhalten ein Maß für die ökonomische Beziehung.
Ein zweites Problem im Zusammenhang mit Kuppelprodukten ist, dass bei Drosselung der Produktion des einen Produkts automatisch auch die Menge des anderen sinkt. Entsprechende Kritik an unserer Studie kommt zum Beispiel vom Interessenverband der Chemieindustrie: Man könne, so die Kritik, zumindest in der Chemieindustrie nicht einfach nur eines der Kuppelprodukte durch Importe substituieren.7 Bezogen auf einzelne Produkte ist das im Grunde eine valide Kritik, aber ist sie auch relevant für die nachfolgend und in der Kurzexpertise berechneten Szenarien? Geht in die Kuppelproduktion viel Gas ein, müssen oft genug alle oder überwiegende Teile der in Kuppelproduktion hergestellten Einzelprodukte als gasintensiv eingestuft werden, und sie werden dank Umsatzkonzept von uns auch als solche erfasst. Damit sind sie Teil dieser Szenarien, die ja alle Produkte betrachten, die gasintensiv sind. Zu hohe Gaspreise führen dann dazu, dass die Produktion des gasintensiven Kuppelprodukts – also das komplette Herstellungsverfahren – im Ausland billiger als in Deutschland wird und somit die gesamte Kuppelproduktion über kurz oder lang ins Ausland abwandert, wo deutsche Kunden diese Produkte günstig kaufen. Obwohl es in solchen Spezialfällen also nicht sinnvoll sein mag, einzelne Kuppelprodukte durch Importe ersetzen zu wollen, zeichnen die Szenarien insgesamt dennoch ein recht genaues Bild. Entscheidend ist die korrekte Interpretation der Produktdaten.
Die heimische Produktion wird somit insbesondere für solche Produkte ökonomisch unattraktiver, die sowohl eine hohe Gasintensität als auch eine hohe Importsubstituierbarkeit aufweisen. Die vollständige Einstellung der Produktion der Produkte, die sowohl über dem Median der Gasintensität als auch über dem Median der Importsubstituierbarkeit liegen, würde bezogen auf den Gasverbrauch der Industrie ein Viertel einsparen und bezogen auf die Bruttowertschöpfung der deutschen Industrie weniger als 2% kosten. Es ließen sich also im Vergleich zur Situation vor dem Krieg sehr hohe Gaseinsparungen bei sehr geringen ökonomischen Verlusten erzielen. Diese Modellrechnung kann beliebig angepasst werden. Würde statt eines Produktionsstopps lediglich eine Drosselung der Produktion um 50% angenommen, würden die Gaseinsparungen und die Verluste entsprechend nur bei der Hälfte liegen. Zu beachten ist, dass die Folgen eines Produktionsstopps dieser Güter für nachgelagerte Produzenten in Deutschland gering sein dürften, da diese die nun nicht mehr in Deutschland produzierten Vorleistungsgüter im Ausland vergleichsweise günstig kaufen können. Ein Zusammenbrechen der Wertschöpfungsketten ist hier somit unwahrscheinlich. In einer vorherigen Ausgabe dieser Zeitschrift zeigen meine Kollegen auf Branchenebene, dass die gasintensiven Wirtschaftszweige, zu denen neben der Chemischen Industrie etwa die Herstellung von Holz- und Papierwaren zählt, ihre Umsätze gegenüber dem Vorjahr überwiegend deutlich ausweiten konnten, zugleich aber die Produktion erheblich reduziert haben.10 Eine mögliche Ursache dieser Divergenz, die sich mit der Analyse in unserer Kurzexpertise gut vereinbaren lässt, ist, dass die Unternehmen gasintensive Vorprodukte aus dem Ausland beziehen statt sie selbst zu produzieren und die höheren Beschaffungskosten auf die Preise überwälzen können.
Gaspreisanstieg ist nicht das Ende des Industriestandorts Deutschland
Infolge des russischen Lieferstopps sind die Preise für Erdgas stark gestiegen, und Verbraucher, aber auch die Industrie, müssen etwa 20% Gas gegenüber den Vorjahren einsparen, um eine Gasmangellage zur vermeiden. Unsere Studie erlaubt erstmals ein fein aufgelöstes Bild der Lage, weil wir die Situation auf der Ebene einzelner Produkte untersuchen. Wir zeigen, dass die Gasverbräuche innerhalb von Industrien sehr ungleich über die Produkte verteilt sind. Die Produkte mit dem größten Gasverbrauch erzielen nur sehr wenig Umsatz und Wertschöpfung und sind oft leicht zu importieren. Eben deshalb sind zu erwartende Produktionsausfälle weit weniger schädlich für den Industriestandort Deutschland als von manchen zunächst befürchtet. Allerdings treffen die Preissteigerungen einige Branchen hart; allen voran die chemische Grundstoffindustrie. Erhebliche Anstrengungen werden von Nöten sein, wenn sich die Chemieindustrie weiterhin von Deutschland aus im Weltmarkt behaupten will.
Hauptergebnisse
Grundlage für die nachfolgenden Ergebnisse sind die 300 Produkte mit dem höchsten absoluten Gasverbrauch.8 Während die Daten zum Gasverbrauch vollständig sind, fehlen für 14 Produkte die Umsätze, und für 40 Produkte fehlen die Außenhandelsdaten. Vollständige Informationen liegen für 249 der 300 Produkte vor. Die Studie zeigt deskriptiv, wo vor dem Ukrainekrieg Gas verbraucht wurde und wie viel Umsatz und Wertschöpfung damit erwirtschaftet wurden. Sie quantifiziert keine allgemeinen Gleichgewichtseffekte, die sich im Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage oder etwa aus Kaufkraftverlusten ergeben. Die zentralen Ergebnisse unserer Studie sind, dass:
- die 300 Produkte mit dem höchsten Gasverbrauch innerhalb der deutschen Industrie für knapp 90% des Gasverbrauchs der Industrie stehen,
- Produkte mit besonders hohem Gasverbrauch wenig Umsatz und Wertschöpfung pro kWh Gas erzeugen,
- bei Gaspreiserhöhungen um das Vierfache gegenüber den Jahren 2015 bis 2017 die Kosten für das durchschnittliche Produkt rechnerisch um 12 Cent pro Euro Umsatz steigen,
- ein Produktionsstopp der Produkte, die sowohl überdurchschnittlich gasintensiv sind als auch überdurchschnittlich leicht durch Importe substituiert werden können, ein Viertel des Gesamtgasverbrauchs der Industrie einspart, aber nur 2% der Bruttowertschöpfung der Industrie kostet.
Der Gesamtgasverbrauch der 300 Produkte beträgt jährlich 310 Terrawattstunden. Bei einem jährlichen Gesamtgasverbrauch der Industrie von ca. 350 TWh in den Jahren 2015 bis 2017 ist dies ein Anteil von 89%. Das bedeutet, dass der Gasverbrauch in der deutschen Industrie sehr stark auf ein paar wenige Produkte konzentriert ist. Umsatzzahlen liegen für 286 Produkte vor, und insgesamt wird mit diesen Produkten ein Umsatz von etwa 771 Mrd. Euro erzielt. Dies entspricht etwa 45% des Gesamtumsatzes im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland im Berichtszeitraum.
Eine zentrale Kenngröße ist die Gasintensität, gemessen als Gasverbrauch in kWh pro Euro Umsatz. Je höher die Kennzahl, umso weniger Erlös wird pro eingesetzter Gasmenge erzielt. Regressionsergebnisse zeigen, dass Produkte mit um 10% niedrigerem Gasverbrauch etwa 5% weniger Umsatz erzielen und dass Produkte mit einer um 10% niedrigeren Gasintensität einen etwa 8% höheren Umsatz erzielen. Anders ausgedrückt: Wird die Produktion von Gütern mit hoher Gasintensität gedrosselt, sinkt der Gasverbrauch der deutschen Industrie sehr viel stärker als ihr Umsatz. Die Gasintensität liegt für das durchschnittliche Produkt bei 1,5 kWh/Euro. In den Jahren 2015 bis 2017 lag der Gaspreis für industrielle Abnehmer in Deutschland bei etwa 2,7 Cent pro kWh und stieg bis Juli 2022 um das Vierfache an.9 Die Gaskosten pro Euro Umsatz erhöhten sich im (ungewichteten) Mittel über alle Produkte somit von etwa 4,1 Cent auf 16,2 Cent. Die Gaspreiserhöhungen steigern die Produktionskosten also um 12 Cent pro Euro Umsatz, und eine vollständige Umwälzung dieser Kostensteigerung auf die Kunden (bei gleicher Produktion) würde eine Preiserhöhung um 12% erforderlich machen.
Die Betroffenheit einzelner Produzenten durch steigende Gaspreise wird maßgeblich von der Fähigkeit der Produzenten beeinflusst, die steigenden Gaspreise an die Konsumenten weiterzugeben. Eine hohe Importsubstituierbarkeit der Produkte begrenzt jedoch die Möglichkeit zur Weitergabe höherer Gaspreise an die Kunden, da hierdurch Konsumenten leichter auf alternative Anbieter des Produkts ausweichen können. Eine hohe Importsubstituierbarkeit macht somit eine Drosselung der Produktion im Inland und den Bezug der Güter aus dem Ausland ökonomisch attraktiver. Ein Maß für die (inverse) Importsubstituierbarkeit eines Produkts ist dessen inländische Verwendung im Verhältnis zum Welthandelsvolumen. Je geringer dieses Verhältnis, desto eher kann der inländische Markt durch Importe bedient werden, ohne dass dadurch die Preise der Importe deutlich anziehen. Da der Gasmarkt in der Europäischen Union (EU) insgesamt sehr angespannt ist, besteht die Gefahr, dass andere EU-Volkswirtschaften ebenfalls nicht mehr wie gewohnt exportieren und somit das auf dem Weltmarkt gehandelte Volumen zu hoch geschätzt wird. Daher berechnen wir das Welt- handelsvolumen abzüglich der Exporte aus der EU. Die inländische Verwendung wird mit unseren Daten als Summe aus der heimischen Produktion und der Importe abzüglich der Exporte angenähert.
Endnoten
1 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland. Berlin, September 2019.
2 Vgl. International Monetary Fund (IMF): Primary Commodity Prices Database.
3 Z. B. Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI): Substanz der Industrie bedroht. Pressemeldung vom 30.08.2022.
4 Vgl. Mertens, M.; Müller, S.: Wirtschaftliche Folgen des Gaspreisanstiegs für die deutsche Industrie. IWH Policy Notes 2/2022. Halle (Saale) 2022.
5 Vgl. Statistisches Bundesamt: AFiD-Modul Produkte. Wiesbaden. Wir erfassen die Produkte in sehr feiner Untergliederung (so genannte 6-Steller). Beispiele für Produkte sind „Salpetersäure, Nitriersäuren, Ammoniak“ oder „Bier aus Malz“.
6 Neben dem AFiD-Modul Produkte werden auch das AFiD-Modul Energieverwendung sowie die Comtrade-Datenbank der Vereinten Nationen ausgewertet.
7 Vgl. dpa: Gasverbrauch mit Importen senken? Chemiebranche widerspricht. Meldung vom 11. November 2022.
8 Produkte werden in sehr feiner Untergliederung (so gennante 6-Steller) gemessen. Beispiele für Produkte sind „Salpetersäure, Nitriersäuren, Ammoniak“ oder „Bier aus Malz“.
9 Vgl. Destatis: Preise, Daten zur Energiepreisentwicklung, Lange Reihen von Januar 2005 bis Juli 2022, Schaubild 4.2 in Verbindung mit Tabelle 5.33. Wiesbaden 2022.
10 Vgl. Holtemöller, O.: Aktuelle Trends: Hohe Umsätze in gasintensiven Industrien – aber niedrige Produktion, in: IWH, Wirtschaft im Wandel, Jg. 28 (4), 2022, 72.