Wirtschaftspolitische Herausforderungen für Sachsen-Anhalt: Toleranz, Talente und Technologie
Das Wirtschaftswachstum in Sachsen-Anhalt war in den vergangenen Jahren schwach. Der wichtigste Erklärungsfaktor ist die demographische Entwicklung; die Alterung und die Schrumpfung der Bevölkerung dämpfen die Anzahl der Erwerbstätigen. Es gibt eine Reihe von ökonomischen Ansatzpunkten für die Verbesserung der wirtschaftlichen Perspektiven. Dazu ist es erforderlich, die Ursachen der schwachen Entwicklung zu analysieren und ursachengerechte Maßnahmen zur Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu ergreifen. Die größten Chancen bieten Investitionen in die Bildung, mehr Internationalität sowie die Förderung von Forschung und Innovation.
30. Juni 2015
Das Wirtschaftswachstum in Sachsen-Anhalt
Das Wirtschaftswachstum in Sachsen-Anhalt war in den vergangenen Jahren schwach. Seit dem Jahr 2000 ist das Bruttoinlandsprodukt in Sachsen-Anhalt lediglich um 7,4% gestiegen, während es in den Neuen Bundesländern (ohne Berlin) um 14,5% und in den Alten Bundesländern (mit Berlin) um 15,8% zugenommen hat (vgl. Abbildung 1).
Der wichtigste Erklärungsfaktor für das vergleichsweise geringe Wirtschaftswachstum ist die ungünstige demographische Entwicklung, also die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung. Die Anzahl der Erwerbstätigen in Sachsen-Anhalt ist seit dem Jahr 2000 um 5,9% zurückgegangen; in den Neuen Bundesländern insgesamt stagniert sie seit einigen Jahren in etwa, und in den Alten Bundesländern stieg sie um 8,4% (vgl. Abbildung 2).
Das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen liegt hingegen in Sachsen-Anhalt wie auch in den übrigen ostdeutschen Flächenländern bei etwa 77% bis 78% in Relation zum Durchschnitt der westdeutschen Länder (vgl. Abbildung 3). Welche Möglichkeiten hat die Landespolitik, um das Wirtschaftswachstum zu stärken? Die größten Chancen bieten Investitionen in Bildung, mehr Internationalität sowie die Förderung von Forschung und Innovation.
Mehr Investitionen in Bildung
In Sachsen-Anhalt sind 10,7% der Erwerbspersonen arbeitslos; in den Alten Bundesländern sind es nur 6,2% (vgl. Abbildung 4). Die höhere Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt ist ein Indikator dafür, dass das Land sein wirtschaftliches Potenzial nicht ausschöpft. Gelänge es, mehr Menschen in die Arbeitsprozesse zu integrieren, so stiege auch das Bruttoinlandsprodukt.
Ferner liegen die Löhne in den Neuen Bundesländern deutlich unter denen in den Alten Bundesländern, und das Armutsrisiko ist höher. Die Teilnahmechancen auf dem Arbeitsmarkt werden vor allem von der persönlichen Qualifikation bestimmt. Ein Schulabschluss ist dabei eine notwendige Voraussetzung für die weitere Ausbildung und für die Integration in den Arbeitsmarkt. In Sachsen-Anhalt ist aber der Anteil derjenigen Abgänger, die die Schule ohne Abschluss verlassen, fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Die positive Korrelation zwischen dem Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss und der Arbeitslosenquote (vgl. Abbildung 5) ist ein Indikator dafür, dass eine Reduktion des Anteils der Schulabbrecher zur Reduktion der Arbeitslosenquote beitragen könnte.
In diesem Bereich sind Fortschritte nur langfristig zu erzielen. Große Erfolgschancen haben Investitionen in frühkindliche Bildung. Die Förderung der frühkindlichen Bildung erhöht insbesondere über sozio-ökonomische Faktoren die Arbeitsmarktchancen von Kindern aus benachteiligten Familien. Hierbei ist auch wichtig, dass die Eltern in entsprechende Programme integriert werden.
Insgesamt kommt es darauf an, die Ergebnisse des Schulbesuchs zu verbessern, denn deren Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ist erheblich. Eine Fokussierung auf den Mittelaufwand für Erziehung und Schulen wäre zu kurz gegriffen.
Mehr Internationalität
Die internationale Vernetzung der realwirtschaftlichen Aktivitäten ist eine wichtige Triebfeder der wirtschaftlichen Entwicklung. Zwischen 1970 und 1990 stiegen die Exporte Deutschlands von etwa 20% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt auf etwas über 30% an. Mit der deutschen Vereinigung fiel die Relation wieder auf etwa 20% zurück. Seit 1992 ist sie schneller als zuvor auf nunmehr über 45% gestiegen; die Beschleunigung hat vor allem mit dem europäischen Binnenmarkt, also dem Abbau von Handelshemmnissen innerhalb der Europäischen Union, und der Dynamik in den großen Schwellenländern zu tun. Rechnerisch geht etwas mehr als die Hälfte der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland seit 1970 auf die Zunahme der deutschen Exporte zurück.
Sachsen-Anhalt nimmt – genauso wie die anderen ostdeutschen Flächenländer – an diesem Prozess bei Weitem weniger teil als Westdeutschland. Der Anteil der Auslandsumsätze an den Gesamtumsätzen der Betriebe im Verarbeitenden Gewerbe liegt hier mit etwa 30% deutlich unter dem Bundesschnitt von gut 45%. Selbst in Schleswig-Holstein, dem Land mit dem niedrigsten Exportanteil unter den westdeutschen Bundesländern, machen die Auslandsumsätze 40% an den Gesamtumsätzen aus, in Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Berlin und Bremen sind es jeweils über 50%. Die fehlende internationale Ausrichtung hat etwas mit der durchschnittlichen Unternehmensgröße zu tun. Großen Unternehmen fällt die Internationalisierung leichter; die Unternehmen in Sachsen-Anhalt sind verglichen mit dem Bundesdurchschnitt klein.
Internationalität umfasst freilich mehr als nur Exporte. Jeder Standort steht im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe. Deutschland ist jedoch für qualifizierte Einwanderer insgesamt nicht attraktiv genug. Viele Zuwanderer fühlen sich in Deutschland unzureichend integriert; ein großer Teil wandert nach wenigen Jahren wieder ab.
Erschwerend für Sachsen-Anhalt ist, dass die teilweise offen zutage tretende Fremdenfeindlichkeit ein negativer Standortfaktor ist; in Sachsen-Anhalt kommen auf 1 000 Einwohner zwölfmal so viele rechtsextreme Straftaten wie beispielsweise in Hessen, und es sind auch mehr als in den anderen ostdeutschen Bundesländern.
Mehr Forschung und Innovation
Innovation und Produktivitätsfortschritt sind Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. In Ostdeutschland wird im Unternehmenssektor in Relation zum Bruttoinlandsprodukt deutlich weniger in Forschung und Entwicklung (FuE) investiert als durchschnittlich in Westdeutschland. Bei den FuE-Ausgaben insgesamt in Relation zum Bruttoinlandsprodukt nahm Sachsen-Anhalt im Jahr 2012 mit knapp 1½% den letzten Platz unter den 16 Bundesländern ein (neuere Angaben liegen noch nicht vor).
Um die durchschnittliche FuE-Intensität der ostdeutschen Unternehmen zu erhöhen, könnte die Politik bei technologieorientierten Existenzgründungen ansetzen. Hier haben insbesondere Ausgründungen aus den Universitäten hohes Potenzial. Dabei wäre es aber ein Fehler, bestimmte Technologien staatlich vorzugeben. Niemand weiß, welches kleine Start-up-Unternehmen das nächste Google wird.
Fazit
Die Wirtschaftspolitik in Sachsen-Anhalt hat drei Hebel in der Hand, um die mittelfristigen wirtschaftlichen Perspektiven des Landes zu verbessern: Bildung, Internationalität und Innovationen. Die Mittelstandsinitiative des Landes Sachsen-Anhalt greift diese Elemente grundsätzlich auf. Der Bildungsbereich kommt dabei aber zu kurz.
Die Schulen und Hochschulen des Landes sind am besten geeignet, im Zentrum einer auf Bildung, Internationalität und Innovationen ausgerichteten Strategie zu stehen. Mehr ausländische Studierende an die hiesigen Universitäten zu holen, ist eine hervorragende Möglichkeit dazu. Die Auswahl der Studierenden sollte dabei selbstverständlich qualitäts- und leistungsorientiert sein. Das Land muss die besten Köpfe in einer Lebensphase anziehen, in der die Mobilität noch hoch ist. Nach Abschluss des Studiums und insbesondere nach der Gründung einer Familie ist die Mobilität deutlich niedriger als davor.
Richard Florida hat zukunftsorientierte Standortpolitik in dem Slogan „Toleranz, Talente, Technologie“ zusammengefasst, den man wie folgt auslegen kann: „Eine Toleranz- und Talentpolitik ist sehr viel anspruchsvoller und langwieriger als die herkömmliche Technologieförderung oder der Bau von Autobahnen: Demokratische Toleranz, Weltoffenheit und Wertewandel können durch Politik von oben (top-down) kaum verordnet werden. Sie müssen von unten wachsen – oder auch nicht. Durch dieses endogene Wachsen ist die Wirkung dafür aber auch umso nachhaltiger.“ Mehr Toleranz und mehr Talente für Sachsen-Anhalt würden die wirtschaftlichen Perspektiven des Landes verbessern.