Die Ost-West-Produktivitätslücke: Die Rolle von Produktspezialisierung, Produktpreisunterschieden und physischer Produktivität
Auch 30 Jahre nach der Deutschen Vereinigung erreicht die ostdeutsche Wirtschaft nur 82% der westdeutschen Arbeitsproduktivität. Dieser Unterschied in der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität steht in engem Zusammenhang mit vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen, denen Ostdeutschland heute gegenübersteht. Auf Basis differenzierter Daten zu den einzelnen Produkten, die Firmen im deutschen Verarbeitenden Gewerbe herstellen, untersuchen wir in diesem Beitrag, wie sich ost- und westdeutsche Firmen bezüglich Produktspezialisierung, Produktpreisen und technischer Effizienz unterscheiden. Wir zeigen auf, dass der Osten – entgegen der Hypothese der „verlängerten Werkbank“ – nicht aufgrund einer Spezialisierung auf Vorprodukte weniger produktiv als der Westen ist. Obwohl Ostprodukte zu deutlich geringeren Preisen verkauft werden, können auch Preisunterschiede zwischen Ost- und Westfirmen den Produktivitätsrückstand nicht erklären. Stattdessen sind Faktoren, welche die physische Produktivität (technische Effizienz) von Unternehmen beeinflussen, entscheidend, um den Produktivitätsrückstand auf Unternehmensebene zu erklären.
11. April 2022
Auch 30 Jahre nach der Deutschen Vereinigung ist Ostdeutschland durch eine deutlich schwächere Wirtschaftsleistung als der Westen Deutschlands gekennzeichnet. Dies wird am einfachsten deutlich, wenn man die aggregierte Arbeitsproduktivität (Wertschöpfung pro Erwerbstätigen) des Ostens im Verhältnis zum Westen betrachtet (vgl. Abbildung). In den ersten Jahren nach der Vereinigung war ein historisch beispielloser Aufholprozess des Ostens zu beobachten. Seit Ende der 1990er Jahre verlangsamte sich die Konvergenz in der aggregierten Produktivität erheblich, sodass selbst heute, 30 Jahre nach der Vereinigung, die ostdeutsche Arbeitsproduktivität um knapp 20% unter dem westdeutschen Produktivitätsniveau liegt.
Definition von aggregierter Produktivität
Die Literatur debattiert eine Vielzahl von möglichen Gründen für den Produktivitätsrückstand des Ostens. Um diese zu verstehen, ist es sinnvoll, die Definition von aggregierter (Arbeits-)Produktivität genauer zu betrachten.
Aggregierte Produktivität ist definiert als der Quotient aus gesamter Produktion, oder gesamter Wertschöpfung, und gesamtem Produktionsinputeinsatz. In einem Idealfall würde man zur Ermittlung der physischen Produktivität, definiert als eine technische Effizienz, physische Produktionsfaktoren in Relation zu physischen Outputmengen setzen. Dies ist allerdings praktisch kaum möglich, da sich physische Produkte und zum Teil physische Inputfaktoren nicht aggregieren lassen (beispielsweise lässt sich eine Anzahl von Autos nicht mit einer Kilogramm-Menge an Nahrungsmitteln zu einer Gesamtgröße zusammenfassen). Darüber hinaus ist der Wert – und nicht die bloße Menge – der Produktion bei gegebenem Produktionsfaktoreinsatz häufig die entscheidendere Kennzahl für eine Vielzahl von Marktergebnissen (z. B. für die Löhne).
In der Praxis werden daher aggregierte Produktivitätsmaße verwendet, die den aggregierten Output als Produkt aus produzierter Menge und Verkaufspreis definieren. Auf der Inputseite wird der Arbeitsinput klassischerweise in physischen Stunden oder der Anzahl von Arbeitern gemessen, während der Kapital- und gegebenenfalls Vorleistungsinput in preisbereinigten Werteinheiten gemessen wird.
Betrachten wir die Produktivitätslücke in der Abbildung, so kann diese darauf zurückzuführen sein, dass Ostunternehmen mit einem gegebenen Arbeitsinput weniger physische Mengen produzieren, und/oder darauf, dass sie diese Mengen zu geringeren Preisen verkaufen (beispielsweise, weil Ostprodukte für Konsumenten einen niedrigeren Wert besitzen).
Preise, Produktspezialisierung und die verlängerte Werkbank
Eine weit verbreitete These zur Erklärung der Ost-West-Produktivitätslücke besagt, dass die ostdeutsche Industrie weniger produktiv ist, weil sie sich, zumindest in nennenswertem Ausmaß, mit der Rolle des Produzenten standardisierter Massenware als Zulieferer für westdeutsche Unternehmen zufriedengibt. Dadurch bliebe ostdeutschen Produzenten der Weg versperrt, durch die Herstellung diversifizierter Güter höhere Preise zu erzielen, was sich wiederum direkt in der mit Preisen bewerteten Produktivität niederschlägt. Ein (hypothetisches) Beispiel hierfür könnte die Herstellung des Reißverschlusses als Vorprodukt für eine hochwertige, in Westdeutschland gefertigte Outdoorjacke sein.
Diese These der „verlängerten Werkbank“ wird häufig als eine Art Residualerklärung verwendet, nachdem andere Ursachen für die Produktivitätslücke bereits ausgeschlossen oder herausgerechnet wurden. Das Fehlen von Zentralen von Großkonzernen mit den oft dort angesiedelten Marketing- und Entwicklungsabteilungen und das niedrige Niveau privater Forschungs- und Entwicklungsausgaben stützen die Hypothese der verlängerten Werkbank.3 Eine alternative Hypothese ist, dass der Osten für die gleichen Produkte nur einen geringeren Preis erzielen kann. Um beim Beispiel der Outdoorjacke zu bleiben: In diesem Fall würden Ost- und Westfirmen beide eine Outdoorjacke herstellen, doch die Ostfirmen würden für ihre Jacke geringere Preise erzielen, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass die Jacke der Ostunternehmen aus Sicht der Konsumenten einen geringeren Nutzen stiftet (etwa aufgrund von Markennamen oder Qualitätsunterschieden) und sie daher weniger zu zahlen bereit sind.
Sollte ein Produktivitätsrückstand jedoch weder auf Unterschiede in der Position innerhalb der Wertschöpfungskette (These der verlängerten Werkbank) noch auf Unterschiede in den Produktpreisen für gegebene Produktklassen zurückzuführen sein, dann bleibt als Erklärung für den Produktivitätsrückstand auf Unternehmensebene nur eine geringere physische Produktivität von Ostfirmen (z. B. aufgrund von geringerer Managementqualität). Sprich, in diesem Fall würden Ostfirmen zu einem gegebenen Verkaufspreis, für ein gegebenes Produkt und mit einem gegebenen Inputeinsatz geringere Mengen produzieren.
Im Folgenden betrachten wir diese Möglichkeiten anhand detaillierter Mikrodaten für das deutsche Verarbeitende Gewerbe.
Die Gründe für diesen Rückstand sind Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, die sich allerdings häufig auf aggregierte Daten stützen.1 Dies beschränkt die Analysemöglichkeiten dieser Studien zwangsläufig, da nur mit Mikrodaten der Firmenebene detaillierte Unterschiede in den Produktionsprozessen individueller Firmen betrachtet werden können. In diesem Beitrag fassen wir Ergebnisse aus einer aktuellen Studie zusammen, in der wir Firmen- Produktdaten für das Verarbeitende Gewerbe nutzen, die sich durch einen ungewöhnlich hohen Detailgrad auszeichnen.2 Dies erlaubt es uns, erstmals empirisch zu testen, wie firmenspezifische Produktspezialisierung und Produktpreise die Produktivität von Firmen in Ost- und Westdeutschland beeinflussen.
Hypothese 1: Verlängerte Werkbank
Sollte ein Produktivitätsrückstand tatsächlich daraus resultieren, dass Ost- und Westunternehmen Produkte an unterschiedlichen Positionen der Wertschöpfungskette herstellen, so müsste sich der Produktivitätsunterschied zwischen Ost- und Westunternehmen, zumindest in einer nennenswerten Größenordnung, verringern, wenn wir Unternehmen vergleichen, die ausschließlich ähnliche, an der gleichen Position in der Wertschöpfungskette angesiedelte Produkte herstellen. Anhand unserer Mikrodaten für das Verarbeitende Gewerbe können wir dies testen. Die Tabelle zeigt den Detailgrad unserer Daten, welche die Produkte des Verarbeitenden Gewerbes in ca. 6 000 verschiedene Produktkategorien unterteilen.
Hypothese 2: Preisunterschiede innerhalb gleicher Produktkategorien
Wenn die Produktivitätsunterschiede nicht durch die Hypothese der verlängerten Werkbank erklärt werden können, spielen dann Preisunterschiede innerhalb der gleichen Produktkategorien eine Rolle? In der Tat finden wir, dass 70% aller 10-Steller-Produkte im Verarbeitenden Gewerbe niedriger bepreist sind, wenn sie von einem Ostunternehmen hergestellt werden. Es existieren also deutliche Preisunterschiede zwischen Ost- und Westprodukten, auch wenn diese aus der gleichen, fein definierten Produktklasse stammen.
Bevor wir jedoch die Beziehung zwischen diesen Preisunterschieden und der Produktivitätslücke diskutieren, sind einige theoretische Vorüberlegungen zu den Ursachen von Outputpreisunterschieden angebracht.
Ein wesentlicher Aspekt ist, dass Industriegüter, wie wir sie betrachten, grundsätzlich überregional handelbar sind und dass somit ostdeutsche Produzenten grundsätzlich die gleichen Konsumenten und Märkte bedienen können, die auch der westdeutschen Konkurrenz offenstehen. Somit scheiden lokale Kaufkraftunterschiede als Ursache für Preisunterschiede aus. Waren in den Jahren nach der Vereinigung das Wissen um und die Kontakte zu überregionalen Kunden beim ostdeutschen Management naturgemäß noch begrenzt, so kann dies Jahrzehnte nach der Einheit keine plausible Erklärung mehr sein. Preisunterschiede auf integrierten Märkten spiegeln also Unterschiede im Nutzen wider, den die Konsumenten Produkten beimessen. Diese Nutzenunterschiede können objektiv aufgrund der Beschaffenheit der Produkte oder aufgrund von Reputationsunterschieden (z. B. Markennamen) bestehen.
In unserer Studie zeigen wir in einem ersten Schritt durch Schätzungen physischer Produktionsfunktionen, also Schätzungen, in denen die physische Outputmenge erklärt wird, dass ostdeutsche Produzenten bei gleichen Inputkosten etwa 20% mehr Güter herstellen als ihre westdeutsche Konkurrenz. Somit stellt das durchschnittliche ostdeutsche Industrieunternehmen in der Tat mehr Güter zu niedrigeren Verkaufspreisen her, was auf die Produktion von einfacherer Massenware hindeutet.
Vergleicht man in einem zweiten Schritt allerdings ost- und westdeutsche Produzenten, die bei gleicher Größe und bei gleichem Ressourceneinsatz das gleiche Produkt für den gleichen Preis produzieren, sind ostdeutsche Produzenten weniger produktiv als westdeutsche Unternehmen. Quantitativ ist dabei der Produktivitätsrückstand des Ostens selbst nach Konstanthaltung all dieser Faktoren nahezu unverändert. Da diese Analyse das Preissegment der Produkte und die Produkte selbst fixiert und ostdeutsche Unternehmen weiterhin weniger produktiv als westdeutsche Unternehmen sind, können Outputpreisunterschiede keine Erklärung für den Produktivitätsrückstand des Ostens auf Unternehmensebene sein.5
Vergleichen wir den Unterschied in der Produktivität zwischen Ost- und Westfirmen, nachdem wir ausschließlich Firmen innerhalb dieser fein definierten Produktkategorien vergleichen, so finden wir, dass dies nahezu keinen Einfluss auf den Produktivitätsunterschied besitzt: Der mittlere Produktivitätsrückstand auf Firmenebene für die Jahre 1999 bis 2014 beträgt unabhängig davon, ob wir für Produktkategorien kontrollieren, ca. 25% im Wertschöpfungskonzept bzw. 8% nach dem Umsatzkonzept.4 Sprich, die Hypothese der verlängerten Werkbank kann die Ost-West-Produktivitätslücke nicht erklären. Dies ist unser erstes Hauptergebnis.
Schlussfolgerungen
Da Unterschiede in Produktpreisen und Produktspezialisierung die Ost-West-Produktivitätslücke nicht erklären können, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass Faktoren, welche die physische Produktivität von Firmen beeinflussen, entscheidend für die Erklärung der Produktivitätslücke sind.
Natürlich stellt sich damit die eigentliche Frage noch immer: Warum besitzen ostdeutsche Produzenten eine geringere Produktivität? Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich, ähnlich wie im Aggregat, die Produktivitätslücke und die Preisunterschiede auf Unternehmensebene seit den 2000er Jahren nur leicht reduziert haben. Theoretisch mögliche Erklärungsansätze sind langfristig bestehende Unterschiede in der Managementqualität oder der Qualität der Produktionsfaktoren sowie historisch gewachsene Vorteile des Westens, bspw. hinsichtlich Reputation und Markennamen.
Es ist uns innerhalb unserer Studie nicht möglich, all diese Hypothesen zu testen. Einige unserer Ergebnisse legen jedoch nahe, dass der Westen noch immer einen wichtigen Reputationsvorsprung bei vielen Gütern besitzt. Dies bedeutet, dass Ostfirmen ein hohes Maß an Investitionen in ihre Reputation vornehmen müssten, um im Wettbewerb mit Westfirmen mithalten zu können.
Endnoten
1 Vgl. etwa Snower, D. J.; Merkl, C.: The Caring Hand that Cripples: The East German Labor Market after Reunification, in: American Economic Review, Vol. 96 (2), 2006, 375-382, sowie Burda, M. C.; Hunt, J.: From Reunification to Economic Integration: Productivity and the Labor Market in Eastern Germany. Brookings Papers on Economic Activity, 2/2001. Washington, DC 2001.
2 Dieser Beitrag basiert auf Mertens, M.; Müller, S.: The East-West German Gap in Revenue Productivity: Just a Tale of Output Prices? IWH Discussion Papers 14/2020, Halle (Saale) 2020, sowie Müller, S.: Der Ost-West-Produktivitätsunterschied: Was sagt die mikroökonomische Forschung?, in: Wirtschaftsdienst, Vol. 101 (suppl. 1), 2021, 21-25.
3 Vgl. Paqué, K.-H.: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit. Hanser: München 2009.
4 Beim Umsatzkonzept wird die Gesamtproduktion zum Gesamteinsatz aller Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit, Vorleistungen) ins Verhältnis gesetzt. Beim Wertschöpfungskonzept setzen wir die Gesamtwertschöpfung ins Verhältnis zum Einsatz von Kapital und Arbeit.
5 Preis- und Produktivitätsunterschiede sinken im Zeitverlauf.