25 Jahre nach dem Mauerfall: Weiterhin strukturelle Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt zwischen Ost und West
Aus Anlass des Jahrestages hat das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) die Broschüre „25 Jahre nach dem Mauerfall: Wirtschaftliche Integration Ostdeutschlands im Spiegel der Forschung am IWH“ herausgegeben. Ein Überblickstext und 25 Abbildungen zeichnen wichtige ökonomische Entwicklungen seit der deutschen Vereinigung bis heute nach. Der folgende Beitrag gibt Auszüge aus der Broschüre wieder. Im Mittelpunkt stehen die Themen Migration, Demographie und Arbeitsmarkt.
14. November 2014
Der Fall der Mauer im Herbst 1989 weckte hohe Erwartungen an die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands. Viele Menschen sahen allerdings zunächst im Westen bessere berufliche Perspektiven als im Osten. Zwar kam es nicht, wie von manchen befürchtet, zur Massenabwanderung von Millionen binnen weniger Monate. Gleichwohl verließen in den Jahren 1990 bis 2013 per saldo 1,9 Millionen Menschen den Osten Deutschlands (einschließlich Berlin; vgl. Abbildung 1). In den Jahren nach der Jahrtausendwende ging die Abwanderung in den Westen – netto – zurück, und zuletzt gab es sogar einen kleinen Binnenwanderungsgewinn für den Osten; leicht negativ ist allerdings weiterhin die Nettomigration von Ostdeutschland ohne Berlin nach Westdeutschland. Die Abnahme des negativen Binnenwanderungssaldos kann auch auf die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland zurückgeführt werden.
Bevölkerungsrückgang ist gestoppt
Die Bevölkerung in Ostdeutschland ging nach 1989 über einen langen Zeitraum zurück. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre deuten allerdings darauf hin, dass dieser Trend vorübergehend gestoppt ist: Im Jahr 2012 ist die Bevölkerung in Ostdeutschland nicht mehr geschrumpft. In Westdeutschland nimmt die Bevölkerung gegenwärtig deutlich zu (vgl. Abbildung 2).
Die demographische Entwicklung wird grundsätzlich durch die Wanderung und durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung bestimmt. Die Wanderung umfasst die Netto-Wanderungsbewegungen mit dem Ausland und innerhalb Deutschlands, während die natürliche Bevölkerungsentwicklung der Differenz aus der Zahl der Lebendgeborenen und der Gestorbenen (Geburtenüberschuss oder -defizit) entspricht.
Diese Komponenten tragen für den westlichen und den östlichen Teil des Landes in sehr unterschiedlichem Ausmaß zur Bevölkerungsentwicklung bei. Der Bevölkerungsanstieg der vergangenen Jahre in Westdeutschland ist vor allem einer verstärkten Zuwanderung aus dem Ausland zuzuschreiben. Für die ostdeutsche Bevölkerungsveränderung ist sowohl die Entwicklung der Binnenwanderung als auch jene der Außenwanderung von großer Bedeutung.
Die Nettoabwanderung nach Westdeutschland nahm nach 1990 von einem sehr hohen Niveau aus rasch deutlich ab und war im Jahr 2012 fast verschwunden. Im Jahr 2012 konnte das Geburtendefizit beinahe vollständig durch Zuwanderung aus dem Ausland ausgeglichen werden.
Allmähliche Stabilisierung am Arbeitsmarkt
Die Modernisierung des Produktionskapitals ermöglichte, dass die Wirtschaftsleistung je Einwohner und die Produktivität, die in Ostdeutschland zunächst nur bei reichlich zwei Fünfteln der westdeutschen lagen, in der ersten Hälfte der 1990er Jahre rasch anstiegen. Die höhere Produktivität ging allerdings auch mit der Freisetzung von Beschäftigten einher. Im Gefolge nahm in den 1990er Jahren die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland rasant zu und erreichte Mitte der 2000er Jahre Werte von über 20%. Danach verbesserte sich die Beschäftigungslage (vgl. Abbildung 3).
Seit etwa zehn Jahren geht die Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland deutlich zurück. Im Jahr 2013 betrug sie in Ostdeutschland 9,9%, in Westdeutschland 6,2%. Die ostdeutsche Quote ist damit noch immer deutlich höher als die westdeutsche, der Abstand hat sich jedoch spürbar verringert. Vor allem zwei Faktoren stehen hinter der Entwicklung in Ostdeutschland: Zum einen stieg die Arbeitsnachfrage deutlich. Die Zahl der Erwerbstätigen nahm in Ostdeutschland zwischen 2005 und 2013 um etwa 189 000 Personen bzw. 3,4% (Westdeutschland: +8,0%) zu. Zum anderen ging das Erwerbspersonenpotenzial im gleichen Zeitraum infolge der demographischen Entwicklung um etwa 410 000 Personen bzw. 5,6% zurück (Westdeutschland: +4,2%).
Allerdings ist zu beachten, dass die Zahl der Arbeitslosen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beeinflusst wird. Dies wird durch das Konzept der Unterbeschäftigung berücksichtigt. In die Unterbeschäftigung geht neben der Zahl der registrierten Arbeitslosen auch die Zahl der durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen geförderten Personen ein. Die Unterbeschäftigungsquote betrug in Ostdeutschland im Jahr 1992 32,9%, im Jahr 2013 lag sie bei 12,5% (Westdeutschland: 7,5%). Der Abstand bei den Unterbeschäftigungsquoten ist um 1,3 Prozentpunkte größer als bei den Arbeitslosenquoten.
Perspektiven Ostdeutschlands werden vom rückläufigen Erwerbspersonenpotenzial beeinträchtigt
War in den frühen 1990er Jahren das verschlissene Sachkapital das offensichtlichste Manko in Ostdeutschland, könnten künftig die Arbeitskräfte den Flaschenhals bilden. Eine entscheidende Ursache hierfür besteht im sehr starken Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials in Ostdeutschland um rund 2,3 Millionen Personen seit dem Jahr 1991 (−21%), während es in Westdeutschland um 2,5 Millionen Personen bzw. 6% gestiegen ist (vgl. Abbildung 4).
Zum Erwerbspersonenpotenzial zählen die Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren, die in einem Arbeitsverhältnis stehen beziehungsweise eine Arbeitsstelle suchen.
Die Verringerung des Erwerbspersonenpotenzials in Ostdeutschland ist im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückzuführen. Erstens ging die Bevölkerung um 9,9% zurück (vgl. oben). Zweitens ist infolge der Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung der Anteil der Erwerbsfähigen deutlich gesunken. Der Anteil der 15- bis 64-Jährigen betrug im Jahr 1991 noch 67,4%. Im Jahr 2012 waren es nur noch 65,6%. Und drittens ist die Erwerbsbeteiligungsquote im Jahr 2013 deutlich niedriger als im Jahr 1991. Diese Quote, die den Anteil des Erwerbspersonenpotenzials an den Erwerbsfähigen und damit eine wichtige Kennziffer zur Messung des Arbeitsangebots darstellt, lag im Jahr 2013 bei 79,0%. Im Jahr 1991 waren es noch 88,1%.
Der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials stellt die Betriebe vor die Herausforderung, geeignetes Personal zu finden. Im Jahr 2013 konnten in ostdeutschen Betrieben 28% und in westdeutschen 26% der offerierten Stellen, die eine Berufsausbildung, Berufserfahrung oder einen Hochschulabschluss erfordern, nicht besetzt werden (vgl. Abbildung 5). Für ostdeutsche Unternehmen scheint es also trotz der deutlich höheren Arbeitslosigkeit sogar etwas schwieriger zu sein, geeignete Mitarbeiter zu finden, als für westdeutsche Firmen. In den Kleinbetrieben mit weniger als 50 Beschäftigten, die für die ostdeutsche Unternehmensstruktur prägend sind, warten die meisten unbesetzten Stellen auf geeignete Bewerber. Bei mittleren und größeren Betrieben ist der ungedeckte Bedarf in den Alten Bundesländern höher als in den Neuen.
Hinter dem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials stehen insbesondere die Rückgänge der Geburtenzahlen, die Abwanderungen und die Alterung der Bevölkerung in Ostdeutschland. Die Folgen könnten tiefgreifend sein, wie eine IWH-Wachstumsprojektion aus dem Jahr 2012 zeigt. Der demographische Wandel, der in Ostdeutschland mit größerer Wucht als im Westen wirkt, dürfte dazu führen, dass sich das Verhältnis zwischen Arbeitsvolumen und Bevölkerung in Ostdeutschland ungünstiger als in Westdeutschland entwickelt. Die weitere Angleichung der Arbeitsproduktivität zwischen Ost- und Westdeutschland, die in der Projektion enthalten ist, reicht nicht aus, um die negativen Effekte des demographischen Wandels auszugleichen (vgl. Abbildung 6), sodass eine weitere Konvergenz der Produktion je Einwohner kaum zu erwarten ist.