Im Fokus: Industrielle Kerne in Ostdeutschland und wie es dort heute aussieht – Das Beispiel des Chemiestandorts Bitterfeld-Wolfen
Der Erhalt industrieller Kerne war eines der wirtschaftspolitischen Ziele beim Aufbau Ost. Einer dieser Kerne ist der Chemiestandort Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt. Der Beitrag untersucht, wie es nach 25 Jahren Deutscher Einheit um diesen industriellen Kern bestellt ist. In einem Satz: Der Kern ist nicht mehr der alte. Die Kombinate der Großchemie waren als Ganzes nicht privatisierbar. An ihre Stelle sind moderne mittelständische Chemiebetriebe getreten. Daneben haben sich neue Branchen, etwa die Glasindustrie, angesiedelt, und in Gestalt einer attraktiven Seenlandschaft ist aus den Braunkohlentagebauen etwas völlig Neues entstanden. Bei den Forschungsaktivitäten kann die Region aber mit westdeutschen Verhältnissen nicht mithalten. Die vielleicht größte künftige Herausforderung wird in einer demographisch bedingt rückläufigen Erwerbspersonenzahl liegen.
18. Dezember 2015
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Mit schwierigem Erbe in die Marktwirtschaft Auf einer Seite lesenDer Beitrag ist Auftakt einer Artikelserie, die sich mit ausgewählten industriellen Kernen in Ostdeutschland und ihrer Entwicklung nach Herstellung der Einheit Deutschlands befasst. Deren Erhalt gehörte in den 1990er Jahren zu den
– kontrovers diskutierten – Zielen der Wirtschaftspolitik. Bitterfeld-Wolfen zählte zusammen mit den anderen Standorten des mitteldeutschen Chemiedreiecks zu diesen industriellen Kernen. Nachfolgend wird untersucht, wie es um die Wirtschaft in Bitterfeld-Wolfen ein Vierteljahrhundert später bestellt ist und welche Faktoren diese Entwicklung bis heute beeinflusst haben.
Historische Wurzeln des Standorts
In der Region um Bitterfeld wurde seit 1839 in größerem Umfang Braunkohle abgebaut. Die Vorkommen an Braunkohle und Kalisalz, die Wasserressourcen sowie die gut ausgebauten Eisenbahnverbindungen machten Bitterfeld auch als Chemiestandort attraktiv. Die „Elektrochemischen Werke G.m.b.H. zu Berlin“ kündigten 1893 den Bau eines Chemiebetriebs zur Herstellung von Ätznatron und Chlorkalk an, im selben Jahr wurde die Errichtung einer Elektrolyse-Anlage in Bitterfeld durch die „Chemische Fabrik Elektron AG/Frankfurt a.M.“ beschlossen, und im Jahr 1894 traf die „Actiengesellschaft für Anilin-Fabrikation“ (Agfa) die Entscheidung, eine Farbstoffproduktion in Wolfen zu errichten; im Jahr 1910 kam eine Filmfabrik hinzu. Später wurde das Produktspektrum weiter ausgedehnt. Unter zentralverwaltungswirtschaftlichen Bedingungen nach 1945 dominierten in Bitterfeld-Wolfen die Stammbetriebe dreier großer Kombinate – des VEB Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), des VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen und des VEB Braunkohlekombinat Bitterfeld (BKK). Ein viertes großes Unternehmen war der VEB Industrie- und Kraftwerksrohrleitungsbau Bitterfeld (IKR). Der CKB-Stammbetrieb hatte 17 500 Beschäftigte, jener des Fotochemischen Kombinats 16 800 (Ende 1989). Im BKK und im IKR waren 1990 jeweils 5 000 Beschäftigte tätig. Die Produktionsanlagen waren in der DDR auf Verschleiß gefahren worden, mit äußerst negativen Wirkungen auf die Umwelt.
Mit schwierigem Erbe in die Marktwirtschaft
Nach Einschätzung des Finanzministeriums der DDR waren nach Vollzug der Währungsunion auch die Unternehmen der Großchemie in Bitterfeld und Wolfen „stark konkursgefährdet“. Rund ein Drittel der Produktionsanlagen im CKB-Stammbetrieb war mehr als 50 Jahre alt, ein weiteres Viertel war 21 bis 50 Jahre alt. Die Produktpalette war mit über 4 000 verschiedenen Erzeugnissen im CKB sehr breit; dies brachte dem Betrieb die Bezeichung „,Apotheke‘ der DDR und des Comecon“ ein. In den Jahren 1991 und 1992 verzeichneten die Großchemieunternehmen in Bitterfeld und Wolfen jeweils ein negatives Betriebsergebnis in dreistelliger Millionenhöhe. Im Jahr 1992 betrug es in Bitterfeld −216 Mio. DM, in Wolfen −153 Mio. DM. Mithin waren Investoren an einer ganzheitlichen Übernahme der großen Einheiten nicht interessiert. Dass die chemische Produktion in Bitterfeld und Wolfen trotzdem eine Perspektive erhielt, ist nicht zuletzt dem Versprechen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl am 10. Mai 1991 anlässlich eines Besuchs in Buna zu danken, sich für den Erhalt des Chemiedreiecks einzusetzen. In Bitterfeld gab es 191 (Teil-)Privatisierungen, Ausgründungen und Neuansiedlungen, mit 4 900 Arbeitsplätzen und Investitionsvorhaben im Umfang von 2,1 Mrd. DM (Stand 01.09.1994). Zu nennen sind beispielsweise der Verkauf der Chloralkali-Elektrolyse an die ECI Elektro-Chemie Ibbenbühren GmbH, heute Akzo Nobel Industrial Chemicals, und die Ansiedlung von Betrieben in Bitterfeld durch Bayer und Heraeus. Eine Privatisierung der Filmfabrik Wolfen GmbH gelang nicht. Ihre Liquidation begann 1994. Eine Reihe von Betriebsteilen der ehemaligen Filmfabrik konnten sich aber in den Jahren 1997/1998 verselbstständigen: Zu ihnen werden die Unternehmen ORWO FilmoTec GmbH, ORGANICA Feinchemie GmbH Wolfen, FEW CHEMICALS GmbH, verschiedene Folienproduzenten sowie die MABA Spezialmaschinen GmbH gezählt. In Wolfen und Thalheim erfolgten vor allem Neuansiedlungen, z. B. des Flachglasherstellers Guardian. Die Braunkohlentagebaue im Raum Bitterfeld wurden nach 1990 stillgelegt und zur Sanierung an die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) übergeben. Entstanden ist unter anderem die touristisch genutzte Seenlandschaft „Goitzsche“. Aus dem einstigen IKR ist die Bilfinger Rohrleitungsbau GmbH mit 420 Beschäftigten (2013) hervorgegangen. Die neuen Strukturen wären ohne umfassende Umweltsanierung nicht entstanden. Allein 1991 bis 1997 wurden rund 1,9 Mrd. DM für Abriss und Sanierung verausgabt. Auf den sanierten Flächen entstand ein Chemiepark.